Brunetti 14 - Blutige Steine
die Suche danach so lange hinausgeschoben? Vermutlich weil die Mörder oder ihre Auftraggeber die Unterkunft des Opfers nicht kannten und erst tagelang danach suchen mußten. Die anderen vucumprà waren entweder schon fort, als ihre Wohnungen gefilzt wurden, oder sie hatten in panischer Angst die Flucht ergriffen, sobald sie entdeckten, daß jemand ihre Räume durchsucht hatte.
Brunetti holte das Telefonbuch aus der untersten Schublade und zog die Fotos des Ermordeten heraus, die er darin versteckt hatte. Das Gesicht des Toten wirkte friedlich und gelöst. Lange betrachtete Brunetti die ebenmäßigen Züge. »Warst du einer von den Guten oder einer von den Bösen?« fragte er im stillen, bevor er die Fotos wieder zurücklegte und das Telefonbuch in der Schublade versenkte. Dann gab er sich einen Ruck und rief seinen Schwiegervater an.
Conte Orazio Falier, dessen Sekretär Brunetti durchgestellt hatte, war auf dem Sprung zum Flughafen. Doch als Brunetti sagte, es sei dringend, erbot sich der Conte, ihn bei einem Zwischenhalt am Danieli an Bord zu nehmen. Man könne sich dann auf dem Weg zum Aeroporto Marco Polo unterhalten, und Massimo würde ihn anschließend zurückfahren. Brunetti versprach, in zehn Minuten am Treffpunkt zu sein, und legte auf.
Ein Blick aus dem Fenster belehrte ihn, daß es immer noch regnete; also holte er den Schirm aus dem Schrank, zog den Mantel an und ging nach unten. Die Glastür nach draußen stand offen, und kein Posten weit und breit. Der kleine Wachraum neben dem Eingang war leer, aber auf dem Schreibtisch lag eine blaue Schirmmütze, und über der Stuhllehne hingen Gürtel und Holster samt Dienstpistole. Einen Augenblick lang war Brunetti versucht, die Waffe an sich zu nehmen und draußen in den Kanal zu werfen: Nur der Gedanke an den Papierkrieg, den er damit auslösen würde, hielt ihn davon ab. Statt dessen schloß er die Tür zur Wache und, als er über die Schwelle getreten war, auch die zur Questura.
Sobald er, hinter seinem Schirm verschanzt, auf die Riva degli Schiavoni hinaustrat, verfing sich der Wind, der vom Bacino herüberfegte, in der Bespannung und stülpte ihm das Regendach nach hinten über den Kopf; der Stoff zwischen den dünnen Speichen riß und wehte in traurigen Fetzen auf Brunetti herab. Der klemmte sich das sperrige Gerippe unter den Arm und kämpfte sich schutzlos durch den peitschenden Regen bis zum Pier vor. Conte Faliers Boot war schon da, und Massimo erwartete den Commissario in gelbem Ölzeug an Deck. Er streckte die Hand aus und stemmte sich gegen den Wind, um Brunetti an Bord zu ziehen. Doch der glitt auf der obersten Stufe aus, stolperte die beiden anderen hinunter und landete unsanft neben Massimo, der ihn mit beiden Händen stützte.
»Buona sera, Commissario«, grüßte der Bootsführer und nahm ihm den demolierten Schirm ab.
Brunetti bedankte sich kurz, stieß dann aber unverzüglich die Schiebetür auf und stieg, vorsichtiger diesmal, die beiden Stufen zur Kabine hinunter. Der Conte saß hinten im Eck und telefonierte. Doch als er seinen Schwiegersohn hereinkommen sah, sagte er energisch: »Ich rufe zurück«, und steckte sein telefonino ein.
Das Lächeln, mit dem er Brunetti entgegensah, machte sein Gesicht weicher und ließ für einen Augenblick das wahre Alter hinter den tief gebräunten Zügen erahnen. Aber dieser Anflug von Sterblichkeit verschwand so rasch, wie er gekommen war, und zurück blieben nur die klaren blauen Augen, das dichte weiße Haar und der allgemeine Eindruck unbeschwerten Wohlbefindens.
Brunetti spürte, wie die Heizungsluft in der Kabine ihm Gesicht und Hände streichelte. Er beugte sich vor, schüttelte dem Conte die Hand und sank auf eine der langen Polsterbänke, die die Kabinenwände säumten. »Gott, ist das kalt draußen«, stöhnte er und rieb sich die regennassen Hände.
»Soll ich Massimo bitten, die Heizung aufzudrehen?« Der Conte machte Anstalten, sich zu erheben.
»Nein, nein!« Brunetti legte seinem Schwiegervater eine Hand auf die Schulter und drückte ihn sanft in den Sitz zurück. »Es ist wirklich warm genug hier drinnen.« Er knöpfte den Mantel auf, streifte ihn im Sitzen ab und legte ihn neben sich. Ein Blick auf seine Füße bestätigte den Verdacht, daß schon wieder ein Paar Schuhe durchgeweicht waren. »Wir brauchen ja den Regen«, war alles, was ihm dazu einfiel.
»Der ultimative Leitsatz des modernen Lebens«, versetzte der Conte. Eine Bemerkung, die Brunetti vollends verwirrte.
Ein
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