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Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas

Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas

Titel: Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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Wintersteife aus den Gliedern schmelzen ließ und sein Gang beschwingter wurde. Tage wie dieser machten ihm aber auch bewußt, was für ein ungutes Klima die Stadt eigentlich hatte: kalt und feucht im Winter; heiß und feucht im Sommer. Eine unliebsame Erkenntnis, die er entschlossen als Überbleibsel der Winterdepression abtat; und als er dann um sich blickte, war sein Lächeln so strahlend wie der junge Tag.
    Binnen kurzem tauchte er in die Häuserschatten der Via Garibaldi ein und ließ die Sonnenwärme hinter sich. Nach Assuntas Beschreibung wohnte Tassini gegenüber von San Francesco di Paola, und als Brunetti links vor sich die Kirche sah, verlangsamte er seine Schritte. Er fand die gesuchte Hausnummer, las die Namen neben den drei Klingeln und drückte auf die oberste, zu der ein Schild mit der Aufschrift »Tassini« gehörte. Da keine Antwort kam, läutete er wieder und ließ diesmal den Finger so lange auf der Klingel, bis sie auch einen schlafenden Nachtwächter wecken mußte. Plötzlich hörte er aus dem Lautsprecher ein grelles Fauchen, in das sich die gedämpften Pfeifgeräusche eines Wackelkontakts mischten. Dann wieder Stille. Erst als er zum drittenmal läutete, fragte eine tiefe Stimme, was er wolle.
    »Ich hätte gern Signor Tassini gesprochen«, rief Brunetti besonders laut, um das unaufhörliche statische Knistern und Knattern zu übertönen.
    »Was?« meldete sich die Stimme durch einen Schwall neuerlichen Störfeuers.
    »Signor Tassini!« brüllte er.
    »... Tasten? ... Wer? ... genug davon ...«, raunzte die Stimme.
    Brunetti sah ein, daß man sich so nie verständigen würde. Also preßte er den Finger auf den Klingelknopf und ließ nicht eher los, als bis die Tür aufsprang.
    Er stieg in den dritten Stock hinauf, wo eine weißhaarige Frau auf dem Treppenabsatz vor der Wohnungstür stand. Ihre schrumpelige, verfärbte Haut verriet die starke Raucherin; aus der Kurzhaarfrisur mit der schlechtsitzenden Dauerwelle hingen ihr fransige weiße Strähnen in die Stirn, und die tiefgrünen Augen darunter blinzelten zwanghaft, wie im Kampf gegen den ewig aufsteigenden Rauch. Sie war klein von Statur, und ihre gedrungene Rundlichkeit zeugte von Ausdauer und Zähigkeit. Sie lächelte nicht, als Brunetti auf sie zutrat, aber ihr Gesicht entspannte sich und mit ihm das feine Netzwerk von Falten um Augen und Mund. »Was kann ich für Sie tun?« fragte sie in reinstem Castello. Ihre Stimme war fast so tief wie die seine.
    Für Brunetti war es ein Gebot der Höflichkeit, ihr im Dialekt zu antworten. »Ich möchte mit Signor Tassini sprechen, falls er da ist«, sagte er.
    »Ach, jetzt sind wir also bei Signor Tassini?« fragte sie und reckte angriffslustig das Kinn. »Und was könnte mein Schwiegersohn angestellt haben, daß sich auf einmal die Bullen für ihn interessieren?« Sie wirkte eher neugierig als besorgt.
    »Ist es so offensichtlich, Signora?« Brunetti wies mit der Rechten auf sich. »Könnte ich nicht auch der Gasmann sein?«
    »Genausogut wie ich die Königin von Saba«, konterte sie und lachte tief aus dem Bauch heraus. Als sie verstummte, hörten beide aus der Wohnung eine Art Jaulen wie von einem jungen Hund. Die Frau drehte lauschend den Kopf in die Richtung, während sie weiter zu Brunetti sprach. »Na, dann kommen Sie mal mit rein. Drinnen können wir uns besser unterhalten, außerdem muß ich doch ein Auge auf die Kleinen haben, solange Sonia beim Einkaufen ist, nicht wahr?«
    Während er sich vorstellte und ihr die Hand gab, überlegte Brunetti, wieviel von dem, was sie sagte, beispielsweise ein Bologneser verstanden hätte. Im linken Oberkiefer fehlten ihr etliche Zähne, was ihre undeutliche Aussprache erklärte, aber es war das Veneziano stretto, vor dem jedes Ohr, das nicht aus dem Umkreis der Lagune stammte, hätte kapitulieren müssen. Wie lieblich empfand dagegen er diesen Dialekt, so nahe verwandt dem, den seine Großmutter gesprochen hatte, die Hochitalienisch zeitlebens als Fremdsprache verschmähte, nicht wert, daß sie sich damit abgegeben hätte.
    Die Frau, die um die fünfzig, aber ebensogut auch sechzig sein mochte, führte ihn in ein penibel aufgeräumtes Wohnzimmer, dessen Ordnung nur ein Bücherregal am anderen Ende des Raums störte, in dem sich die Bücher ganz nach Lust und Laune zusammendrängten - über den Rand hängend, aneinandergelehnt, halb verrutscht oder seitwärts geneigt. Dem Sofa gegenüber, auf dem die Frau vermutlich gesessen hatte, stand ein kleiner

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