Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas
Brücke. Franco hat um die Zeit gewöhnlich schon auf.«
Erst als sie losgingen, merkte Brunetti, wie unsicher er noch auf den Beinen war, aber er kämpfte dagegen an und folgte dem maestro. Am Fuß der Brücke stand ein alter Abfallkorb der Firma amav, in dem Brunetti sein Taschentuch versenkte.
Als sie die Brücke überquert hatten, führte der maestro Brunetti links die riva entlang und bog dann rasch in eine enge calle ein. Auf halber Höhe wies er auf eine Bar, aus der es nach Kaffee und frischem Gebäck duftete. Bevor sie eintraten, reichte er Brunetti die Hand und sagte: »Grassi. Luca.« Brunetti erwiderte den Händedruck, und um dem Mann seine Dankbarkeit zu erweisen, tätschelte er ihm mit der freien Hand den Arm.
Grassi ging voraus an die Theke, bestellte für sich einen caffè corretto und sah Brunetti fragend an.
»Einen Grappa und ein stilles Wasser.« Das war so ungefähr das einzige, was sein Magen mit etwas Glück bei sich behalten würde.
»Aber gib ihm von dem guten Grappa, Franco«, rief Grassi dem Barmann nach. Als die Getränke kamen, nahm Grassi seine Tasse und wies auf einen Tisch am Fenster, doch Brunetti schüttelte den Kopf. »Meine Leute werden gleich hier sein. Ich muß zurück.«
Grassi gab drei Löffel Zucker in den Kaffee und rührte mehrmals um. Brunetti schwenkte seinen Grappa im Takt mit Grassis Löffelklirren und kippte ihn in einem Zug hinunter. Kaum daß sein Gaumen Geschmack aufgenommen hatte, spülte er mit einem halben Glas Wasser nach und wartete dann ruhig ab, was passieren würde. Nach wenigen Augenblicken trank er das Wasser ganz aus und bestellte gleich noch eins.
Brunetti hatte den Toten nicht erkannt. »Woher wußte Ihr servente, daß es Tassini war?«
»Keine Ahnung.« Grassi schüttelte müde den Kopf. »Er hat nur gesagt: ›Tassini ist tot.‹ Mehr war nicht aus ihm herauszubringen.«
Die nächste Frage fiel Brunetti schwer, beschwor sie doch den schrecklichen Anblick aus der Werkstatt wieder herauf. »Haben Sie ihn auch gesehen?«
»Nein. Eben, als ich Sie rausholte, habe ich nicht hingeschaut.« Grassi begleitete sein Geständnis mit einem verlegenen Schulterzucken. »Und zuvor bin ich gar nicht erst drin gewesen, denn als ich nach Giulianos Anruf herkam, stand er schon weinend am Tor.« Er warf Brunetti einen raschen Blick zu. »Sagen Sie ihm aber nicht, daß Sie das von mir haben, ja?« Brunetti nickte. »Als ich von Giuliano erfuhr, Tassini läge drin und sei tot, da wollte ich schon nachsehen, aber Giuliano hielt mich mit aller Macht zurück. Ohne zu sagen, warum.« Grassi trank seinen Kaffee aus und stellte die Tasse ab. »Also blieben wir draußen und warteten darauf, daß jemand käme. Bestimmt eine halbe Stunde lang. Giuliano mußte sich ein paarmal übergeben, aber er weigerte sich strikt, mir zu sagen, was er gesehen hatte, und bat mich nur, mit ihm zu warten. Bis Sie - also die Polizei - da wären.«
»Verstehe.« Brunetti griff nach dem zweiten Glas Wasser und setzte es an die Lippen. Aber schon nach einem kleinen Schluck sagte ihm sein Magen, daß es fürs erste genug sei, und er stellte das Glas auf die Theke zurück.
»Warum sind Sie vorhin doch noch reingekommen?« fragte er.
Grassi schob seine leere Tasse weg. »Als ich zurückkam und Sie nicht mehr da waren, dachte ich, es könnte Ihnen was passiert sein. Darum bin ich rein in die Werkstatt, um nach Ihnen zu sehen. Aber Tassini ... wie gesagt, ich habe nicht hingeschaut.« Hier machte er eine längere Pause. »Auf dem Nachhauseweg hat Giuliano doch noch geredet, und das, was er beschrieb, wollte ich nicht sehen.« Mit einem Schubs beförderte Grassi die Tasse zur anderen Seite. »So ein armer, dummer Teufel.«
Das zweite Adjektiv ließ Brunetti aufhorchen: Er war nicht sicher, wen Grassi meinte. »Tassini?«
»Ja«, sagte Grassi, und halb entnervt, halb mitfühlend erläuterte er: »Giorgio war einem dauernd im Weg; immerzu ist er über irgendwas gestolpert, sogar über die eigenen Füße. Er hat sich mal bei De Cal für die Glasverarbeitung beworben, aber keiner von uns wollte ihn haben. Wir wußten aus jahrelanger Erfahrung, daß er zwei linke Hände hatte, ständig Dinge fallen ließ: Nicht auszudenken, was er bei uns in der Werkstatt anrichten würde.« Grassi unterbrach sich, als ihm bewußt wurde, daß er unversehens in die falsche Zeitform geraten war. »Ich meine, er war ein guter Kerl: ehrlich und aufrichtig und hat brav seine Arbeit gemacht. Aber zum Glasbläser hätte er
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