Brunetti 17 - Das Mädchen seiner Träume
und allein, damit Gutes daraus entstünde. Es gebe, versicherte er, kaum ein größeres Geschenk als diese Krönung aller guten Werke: die Erlösung der Menschheit.
Und immerzu flocht er seine Pointe ein, dass Christus nie einen Stock gebraucht habe. Ohne die unerschütterliche Eintracht zwischen Redner und Publikum hätte die aufdringliche Wiederholung leicht abgeschmackt wirken können. Aber im Verein mit dem Vortragston, der schon den bloßen Gedanken an einen gewalttätigen Christus ad absurdum führte, machte der schlichte Vergleich dem Publikum großen Eindruck. Selbst Brunetti, der die Argumentation für abwegig hielt, bewunderte deren rhetorische Schlagkraft.
Eine weitere Viertelstunde verstrich, in der Brunettis Aufmerksamkeit sich vom Sprecher auf das Publikum verlagerte. Er bemerkte zustimmendes Nicken, sah Köpfe sich nach links oder rechts neigen, während die Zuhörer miteinander tuschelten, und Männer ihre Hände auf die der Frau an ihrer Seite legten. Eine Frau holte ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und wischte sich die Augen. Nach noch einmal fünf Minuten senkte der Redner den Kopf, legte die Handflächen aneinander und führte sie an die Lippen.
Brunetti erwartete Beifall, doch der war offenbar nicht vorgesehen. Stattdessen erhob sich Signora Sambo, die in der ersten Reihe gesessen hatte, trat einen Schritt nach vorn und wandte sich an ihre Gäste. »Ich glaube, heute Abend haben wir alle sehr viel Stoff zum Nachdenken bekommen.« Sie lächelte die Leute an, sah kurz hinunter auf ihre Schuhe und dann wieder zu ihren Gästen hin. Brunetti spürte ihre Nervosität und begriff, dass es ihr schwer fiel, frei vor einer größeren Versammlung zu sprechen.
Auf Signora Sambos Gesicht erschien ein zaghaftes Lächeln. »Aber wir alle haben Familien, die auf uns warten, und anderweitige Pflichten, weshalb es wohl an der Zeit ist, dass wir uns wieder hinaus in die Welt begeben« - ihr Lächeln wurde immer verkrampfter - »und in unserem täglichen Bemühen fortfahren, den Menschen in unserer Umgebung - Familie, Freunden, aber auch Fremden - Gutes zu tun.«
Es war ungeschickt formuliert, und sie wusste das, aber soweit es sich an den Mienen der Anwesenden ablesen ließ, schien keiner sich daran zu stören. Die Leute erhoben sich von ihren Plätzen; einige gingen und wechselten ein paar Worte mit Signora Sambo, während andere das Gespräch mit dem Mann im Sessel suchten, der zuvorkommend aufstand, als seine Anhänger sich um ihn scharten.
Brunetti und Vianello verständigten sich mit einem Blick und verließen, nachdem sie ihre Frauen eingesammelt hatten, als Erste die Wohnung.
10
I m Gänsemarsch traten sie auf die Gasse und legten schweigend die kurze Strecke zum Campo San Giacomo dell'Orio zurück. Als sie in die enge calle einbogen, die sie wieder zum Rialto bringen würde, sah Brunetti, wie Paola, die vorausging, verstohlen über die Schulter spähte, als wolle sie sich vergewissern, dass kein Mitglied der Kinder }esu Christi hinter ihnen war. Sobald sie sich unbeobachtet wusste, blieb Paola stehen und wartete, bis Brunetti aufschloss. Mit gesenktem Kopf lehnte sie ihre Stirn an seine Brust und sprach dumpf in seine Jacke hinein: »Ich allein kann mich dazu bewegen, Gutes zu tun, indem ich meinem Körper Alkohol zuführe. Und ich laufe Amok, wenn mir dieses gute Werk nicht zuteil wird. Ich sterbe, ich gehe elendig zugrunde, falls ich nicht auf der Stelle einen Drink bekomme.«
Ohne eine Miene zu verziehen, tätschelte Nadia ihr begütigend die Schulter. »Ich schließe mich an«, sagte sie. Und an Brunetti gewandt: »Tun Sie ein gutes Werk, indem Sie Ihrer Frau und mir das Leben retten und uns einen Drink beschaffen.«
»Prosecco?«, schlug Brunetti vor.
»Das Himmelreich ist Ihnen gewiss!«, jubelte Nadia. Brunetti war, gelinde gesagt, verblüfft. Er kannte Nadia fast so lange wie Vianello, hatte aber bisher nur sehr förmlich mit ihr verkehrt: Er rief sie an, wenn er ihren Mann suchte, erkundigte sich gelegentlich bei ihr nach Leuten, mit denen sie bekannt war. Doch hatte er sie wohl nie als Person wahrgenommen, als ein eigenständiges Wesen mit Geist und Verstand und offenbar auch Humor. Denn irgendwie - und es war ihm vor sich selber peinlich, das zuzugeben - war sie immer ein Anhängsel von Vianello gewesen.
Paola telefonierte ab und zu mit ihr; die beiden trafen sich hin und wieder auf einen Kaffee oder gingen zusammen spazieren, so viel wusste Brunetti. Aber Paola erzählte ihm nie,
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