Brunetti 17 - Das Mädchen seiner Träume
Brunetti daran, dass Signora Vivarinis Angaben auch noch von ihrem Sohn bestätigt werden mussten.
»Das würde sie nicht riskieren«, wehrte Brunetti ab, obwohl er nicht hätte sagen können, woher er diese Gewissheit nahm.
»Commissario«, wagte Pucetti sich vor, »darf ich Sie etwas fragen?« Und als Brunetti nickte, fuhr der junge Beamte fort: »Wenn ich's recht verstehe, erscheint Ihnen diese Signora Vivarini irgendwie verdächtig. Entweder weil sie was angestellt hat, oder weil sie etwas verheimlichen will.«
Brunetti widerstand der Versuchung, Pucetti auf die Schulter zu klopfen, ja er ließ sich nicht einmal ein Lächeln entlocken. »Signora Vivarini will angeblich nicht bemerkt haben, dass sie bestohlen wurde. Ein Trauring, eine Taschenuhr, ein Paar Manschettenknöpfe und noch ein Ring wurden entwendet, aber sie hat nichts davon vermisst.«
Pucetti hörte aufmerksam zu und verfolgte Brunettis Ausführungen gewissenhaft Punkt für Punkt.
»Ihr Erstaunen, als plötzlich die Polizei bei ihr auftauchte, war, glaube ich, echt.« Pucetti nickte und speicherte auch diesen Hinweis. »Andererseits genau die Reaktion, die man von einem unbescholtenen Bürger erwartet«, schränkte Brunetti ein, und wieder nickte Pucetti.
Brunetti spielte mit dem Gedanken, Pucetti um eine eigene Einschätzung zu bitten. Doch er widerstand der Versuchung und fuhr fort: »Aber während der ganzen Zeit Vianello und ich waren mindestens eine halbe Stunde bei ihr - hat sie sich nicht ein einziges Mal nach dem Kind erkundigt, das in der Nähe ihres Hauses tot aus dem Wasser geborgen wurde.«
»Heißt das, Sie haben die Signora in Verdacht?« Pucetti war so verblüfft, dass er das letzte Wort besonders betonte.
»Nicht unbedingt«, antwortete Brunetti. »Aber sie hat sich mit keiner Silbe nach dem Kind erkundigt. Nicht einmal als ich ihr sagte, dass die gestohlenen Sachen bei einer Person sichergestellt wurden, die im Zentrum einer größeren Ermittlung steht. Das ist es, was mich misstrauisch macht.«
In Pucettis Zügen malte sich zunächst unverhohlene Skepsis, und Brunetti war selbst überrascht, wie sehr ihn das kränkte. Doch dann schüttelte der junge Mann den Kopf, sah eine Weile grübelnd auf seine Füße und hob schließlich lächelnd den Blick. »Sie hätte wirklich danach fragen sollen, nicht wahr?«
Brunetti sah zu Vianello hinüber und war froh, auch ihn schmunzeln zu sehen. »Erst ertrinkt ein kleines Mädchen praktisch vor deinem Haus«, sagte der Inspektor zu Pucetti, »dann taucht die Polizei auf und erkundigt sich nach verschwundenen Schmuckstücken. Wenn die Bullen sich eine halbe Stunde lang dafür Zeit nehmen, müsste einem, finde ich, dämmern, dass da ein Zusammenhang bestehen könnte. Kommt schließlich nicht alle Tage vor, dass bei uns wer ertrinkt, oder?«
»Aber welchen Zusammenhang vermuten Sie?«, fragte Pucetti.
Brunetti hob vielsagend die Brauen und neigte das Kinn zur Seite. »Schwer zu sagen. Es könnte sich natürlich auch um ein zufälliges Zusammentreffen handeln. Da das Mädchen Ring und Uhr bei sich hatte, wissen wir, dass sie im Haus gewesen sein muss. Insofern sind wir Signora Vivarini gegenüber im Vorteil, die vielleicht nicht weiß, dass das Mädchen dort war und daher auch keinen Zusammenhang sieht. Trotzdem ist es merkwürdig, dass sie nicht nach der Ertrunkenen gefragt hat.« »Ist das alles?«, fragte Pucetti. »Im Augenblick, ja«, antwortete Brunetti.
18
L ange nachdem Pucetti gegangen war, saß Brunetti immer noch grübelnd hinter seinem Schreibtisch. Den Ordner mit den restlichen Fotos des Zigeunermädchens hatte er ganz beiseitegeräumt, so als könnte er sie damit auch aus seinen Gedanken verdrängen. »Avanti!«, antwortete er fast erleichtert auf ein Klopfen an seiner Tür.
»Haben Sie einen Moment Zeit, Commissario?« Auf der Schwelle stand Signorina Elettra.
»Aber ja doch!« Einladend wies er auf einen der Besucherstühle.
Sie schloss die Tür, durchquerte das Zimmer und nahm vor dem Schreibtisch Platz. Auch wenn sie keine Unterlagen oder Notizen dabeihatte, merkte Brunetti an der Art, wie sie sich zurechtsetzte und die Beine übereinanderschlug, dass ihr Anliegen einige Zeit in Anspruch nehmen würde.
Brunetti setzte ein ermunterndes Lächeln auf. »Ja, Signorina?«
»Ich habe mich wie gewünscht über diesen Priester kundig gemacht, Dottore.« »Welchen?«, fragte Brunetti.
»Oh, es gibt nur einen: Padre Antonin.« Und bevor er einhaken konnte, fuhr sie fort:
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