Brunetti 17 - Das Mädchen seiner Träume
neuerlichen Hustenreiz aus. Nach einer Weile hob sie eine Hand und lächelte wie zur Entwarnung. Noch ein paar stoßweise, flache Atemzüge, dann versicherte sie ihrer Mutter mit krächzender Stimme: »Jetzt ist alles gut, mamma.«
Erleichtert überquerte Brunetti den Flur und öffnete die Tür zum Arbeitszimmer. Vianello saß noch auf demselben Platz und las in der Zeitschrift, die Brunetti zuvor vom Sofa genommen hatte. Jetzt legte er das Heft zurück, erhob sich und folgte Brunetti auf den Flur hinaus. Er sah das Mädchen, sie lächelte ihm zu, bot ihm aber nicht die Hand.
Statt des Fahrstuhls, der immer noch auf der Etage hielt, nahmen die beiden Männer, als sie die Wohnung verließen, in stillschweigender Übereinkunft die Treppe.
Sobald sie ins Freie gelangten, fragte Vianello: »Die Tochter?« »Ja.«
»Hübsches Mädchen.«
Brunetti antwortete nicht, sondern ging vor bis zum Kanalufer, wo er sich umwandte und aufmerksam die Fassade des Hauses musterte, aus dem sie gerade gekommen waren.
Vianello folgte seiner Blickrichtung und fragte: »Was suchst du denn?«
»Das Dach. Ich möchte wissen, wie steil es ist«, antwortete Brunetti, der mit erhobener Hand seine Augen gegen die Sonne abschirmte. Aber obwohl er schon hart an der Uferbefestigung stand und keinen Schritt weiter zurückweichen konnte, war er zu dicht dran und sah lediglich die Hausfront und die Unterseite der Dachrinnen. »Das Elternschlafzimmer geht nach hinten raus.« Brunetti nahm die Hand vom Gesicht und wies mit ausgestrecktem Arm auf das Gebäude. »Da waren noch zwei Türen auf der anderen Seite des Flurs.«
»Und?«, forschte Vianello.
»Nichts und. Leider«, antwortete Brunetti und bog mit großen Schritten in die calle ein, durch die sie gekommen waren. Als Vianello zu ihm aufholte, berichtete er: »Sie sagt, sie sei mit ihrem Sohn in der Oper gewesen und hinterher zum Essen bei ihrer Schwester und ihrem Schwager. Also werden wir das als Erstes nachprüfen.« »Und dann?« »Wenn ihre Angaben stimmen, versuchen wir als Nächstes, etwas über das Mädchen in Erfahrung zu bringen.« Nach kurzem Zögern fragte Vianello unsicher: »Die Zigeunerin?«
»Ja, über wen denn sonst?« Brunetti hielt kurz inne und musterte den Inspektor neugierig.
Vianello hielt seinem Blick erst stand, dann senkte er die Lider, und als er wieder aufsah, fragte er: »Hat Rizzardi das wirklich gesagt? Das mit der Gonorrhöe?« »Eindeutig.«
Am Campo Santo Stefano wandten sie sich Richtung Accademia-Brücke, von wo aus sie mit dem Vaporetto zurück zur Questura gelangen würden.
Sie gingen gerade an der Statue vorbei, als Vianello sagte: »Warum bilde ich mir ein, dass ihr Alter die Sache noch schlimmer macht?«
Ehe Brunetti sich zu einer Antwort aufraffte, hatten sie bereits die Kirche passiert und strebten der Brücke zu. »Weil es so ist«, sagte er.
Nicht lange nachdem die beiden in die Questura zurückgekehrt waren, meldete sich Pucetti zum Rapport. Brunetti hatte inzwischen Signora Vivarinis Schwager ausfindig gemacht, der ihr Alibi bestätigte. Ja, er hatte sie und ihren Sohn sogar zum Anleger begleitet und konnte bezeugen, dass sie mit dem Vaporetto um sieben nach eins heimgefahren waren.
Pucetti hatte weisungsgemäß die Fotos des toten Mädchens unter seinen Kollegen kursieren lassen und Abzüge in der Carabinieri-Station San Zaccaria abgegeben, mit der Bitte, sie zu verteilen und die Questura zu benachrichtigen, falls jemand das Mädchen erkannte.
Als der junge Beamte mit seinem Bericht zu Ende war und seinem Vorgesetzten den Ordner mit den verbliebenen Fotos ausgehändigt hatte, fragte Brunetti: »Aber es hat sie niemand erkannt?«
»Von uns hier noch keiner, nein. Ich habe zwei Fotos am Schwarzen Brett ausgehängt«, antwortete Pucetti. »Aber einer der Carabinieri von San Zaccaria meinte, sie sei vor etwa einem Monat von einer Streife aufgegriffen worden. Ganz sicher war er zwar nicht, doch er hat versprochen, in den Akten nachzusehen und mit den Kollegen zu reden, die die Anzeige aufgenommen haben.«
»Na, hoffentlich hält er Wort«, sagte Vianello, der nicht die besten Erfahrungen mit den Carabinieri und deren Dienstauffassung gemacht hatte.
Doch Pucetti blieb zuversichtlich. »Ich denke schon. Dass ein Kind dran glauben musste, ging ihm ganz schön an die Nieren. Wie übrigens praktisch allen, mit denen ich gesprochen habe.« Die drei Männer tauschten vielsagende Blicke. »übernimmst du den Jungen?« Vianellos Frage erinnerte
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