Brunetti 17 - Das Mädchen seiner Träume
sich trotzdem bedeckt hielt, so geschah das rein instinktiv.
Den Maresciallo hatte Brunetti sich wie eine Art Tiroler Übermenschen vorgestellt: groß, blond, blauäugig, kantiges Kinn und markiges Auftreten. Der Mann, in dessen Büro er geführt wurde, war klein und dunkel; mit seiner Statur und dem drahtigen, dichten schwarzen Haar, das zu bändigen ein Friseur seine liebe Not haben musste, hielt man ihn gewiss oft irrtümlich für einen Sardinier oder Sizilianer. Auffallend waren seine klaren, grauen Augen, die mit dem dunklen Teint kontrastierten.
»Steiner«, stellte er sich dem eintretenden Brunetti vor. Die beiden Männer gaben einander die Hand, und nachdem Brunetti den obligatorischen Kaffee abgelehnt hatte, bat er den Maresciallo, ihn über das Mädchen und seine Familie zu informieren.
»Ich habe die Akte hier«, sagte der Maresciallo, griff nach einem braunen Ordner und setzte eine Brille mit dicken Gläsern auf. »Die sind ganz schön umtriebig.« Steiner schwenkte den Ordner in der Luft. Als er ihn wieder auf den Schreibtisch legte, ergänzte er: »Da ist alles drin: Unsere Protokolle, dann die von den Kollegen in Dolo und die Berichte vom Sozialamt.«
Steiner schlug die Akte auf, griff die ersten Seiten heraus und begann vorzulesen: »Ariana Rocich, Tochter von Bogdan Rocich und Ghena Michailovich.« Er musterte Brunetti über den Rand seiner Brille hinweg, doch als er sah, dass der sich Notizen machte, sagte er: »Das Material steht Ihnen zur Verfügung. Ich habe alles kopieren lassen.«
»Besten Dank, Maresciallo«, versetzte Brunetti und steckte seinen Notizblock wieder ein.
Steiner wandte sich erneut der Akte zu und las so selbstverständlich weiter, als hätte es die kleine Unterbrechung nicht gegeben. »Auf diese Namen sind zumindest ihre Papiere ausgestellt. Aber das heißt nicht viel.« »Fälschungen?«, fragte Brunetti.
»Wer weiß.« Steiner ließ die Blätter auf den Tisch segeln. »Hier bei uns stammen die meisten Zigeuner aus dem ehemaligen Jugoslawien. Sie kommen entweder als UN-Flüchtlinge oder reisen mit Papieren ein, die von gar nicht mehr existierenden Ländern ausgestellt wurden.« Mit einem erstaunlich langen, feingliedrigen Finger schob er den Ordner von sich weg. »Manche sind schon so lange da, dass sie erfolgreich einen italienischen Pass beantragen konnten. Diese Rocichs stammen aus dem Kosovo. Behaupten sie, und wir können's nicht nachprüfen. Spielt wohl auch keine Rolle, denn wenn die einmal hier sind, wird man sie ohnehin nicht mehr los, stimmt's?«
Brunetti brummelte etwas vor sich hin, dann fragte er: »Sie sagten am Telefon, Ihre Leute hätten das Mädchen zusammen mit anderen Kindern aufgegriffen?« Steiner nickte. »Dieselben Eltern? Wie war gleich der Name? Rocich?«
Steiner blätterte die Unterlagen durch und sortierte einige Seiten, mit der Schrift nach unten, aus. Endlich schien er gefunden zu haben, was er suchte. »Sie sind zu dritt«, sagte er, nachdem er den Text überflogen hatte. »Das Mädchen Ariana und noch zwei.« Er blickte auf: »Sie wissen, dass wir von Kindern keine Daten speichern dürfen, aber ich habe mich umgehört.« Als Brunetti nickte, fuhr Steiner fort: »Meine Leute haben das Mädchen zweimal geschnappt, beide Male bei einem Einbruch.« Brunetti wusste, dass Kinder unter vierzehn Jahren nicht verhaftet, sondern nur so lange in Gewahrsam genommen werden durften, bis man sie ihren Eltern oder den Erziehungsberechtigten übergeben konnte. Festnahmeprotokolle aufzubewahren war ebenfalls unzulässig, nur gegen das Gedächtnis hatte man noch kein Verbot verhängt.
»Die beiden anderen Kinder«, fuhr der Maresciallo fort, »gehören zur selben Familie - zumindest lauten ihre Papiere auf denselben Nachnamen -, obwohl man bei denen nie weiß, wer der wirkliche Vater ist.«
»Haben denn alle dieselbe Adresse?«, fragte Brunetti. »Sie glauben doch nicht, dass die in einem Haus wohnen, Commissario?«
»Nein, ich dachte natürlich an ein Lager. Sind alle drei im selben untergebracht?«
»Scheint so«, antwortete Steiner. »In einem Camp außerhalb von Dolo. Besteht seit über fünfzehn Jahren, also seit dem Zusammenbruch Jugoslawiens.« »Wie viele Personen?«
»Meinen Sie dort oder in ganz Italien?« »Sowohl als auch.«
»Das lässt sich unmöglich beziffern.« Steiner nahm die Brille ab und legte sie in den aufgeschlagenen Ordner. »Bei Dolo drüben sind so fünfzig bis hundert Leute, entsprechend mehr, wenn eine Hochzeit oder sonst
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