Brut des Teufels

als er auf ein großes Kruzifix an der gegenüberliegenden Wand zuging, hatte er ein Atemwölkchen vor dem Mund. Der Boden war mit grauen Schieferplatten ausgelegt, und die Kirchenbänke waren aus Eiche; in einer Ecke stand ein großes, modernes, steinernes Taufbecken. Er blickte sich um, aber außer ihm befand sich niemand in der Kirche.
    Das Kruzifix war beinahe einen Meter hoch, und ein Jesus hing daran, langhaarig, dunkeläugig und mit gelassener Miene, als wäre es keine große Sache, gekreuzigt zu werden. Nightingale kniete sich vor dem Kruzifix nieder und bekreuzigte sich.
    » Bisher war ich nicht oft hier, außer zu Beerdigungen, das ist jetzt also das erste Mal, dass ich kommen konnte, um privat zu plaudern«, sagte er. Er lächelte liebenswürdig. » Es war eine Menge los.«
    Seine Knie schmerzten allmählich, und er ging in die Hocke. » Diese Stellung tut verteufelt weh, aber ich schätze, deine ist schlimmer. Ich stelle mich hin, wenn dir das recht ist.«
    Nightingale stand auf, steckte die Hände in die Hosentaschen, zuckte dann mit den Schultern und zog sie wieder heraus. » Ich nehme an, dass ich mit dir reden muss, oder? Es gibt keine Statuen von Gott, nur von Jesus und Maria. Das habe ich nie begriffen. Gott ist doch derjenige, der verehrt wird, und trotzdem gibt es keine Statuen von ihm, keine Bilder. Warum nur?«
    Er blickte auf Jesus und nickte erwartungsvoll. » Ach, richtig, du antwortest nicht, oder?« Er verschränkte die Arme. » Okay, die Sache ist die«, sagte er. » Meine Schwester sitzt hinter Gittern, und ich möchte sie da rauskriegen. Sie ist in einer Psychiatrie, nicht in einem Gefängnis, aber die Türen sind verschlossen, und keiner wird uns einen Schlüssel geben. Sie sitzt da drinnen, weil sie fünf Kinder ermordet haben soll, aber sie hat das gar nicht getan. Jetzt gibt es da einen Teufel, der ein Ass darin ist, Leute aus dem Gefängnis zu holen. Sugart heißt er. Ein ziemlich übler Kerl, wie man hört, aber im Moment ist er die einzige Hoffnung, die ich habe.«
    Nightingale begann, vor dem Kruzifix hin und her zu gehen, und redete weiter. » Ich habe letzthin ein bisschen in der Bibel gelesen. Um irgendwie besser zu verstehen, was mir in letzter Zeit widerfahren ist. Dabei bin ich auf eine Geschichte über Petrus gestoßen, der von Herodes ins Gefängnis geworfen wurde. Herodes hatte Jakobus, den Bruder des Johannes, mit dem Schwert enthaupten lassen, und er hatte vor, dasselbe mit Petrus anzustellen. Daher warf er ihn ins Gefängnis und ließ ihn Tag und Nacht von sechzehn Soldaten bewachen, um ihn dann vor Gericht zu stellen. Jede Stunde des Tages und der Nacht war Petrus an zwei Wächter gekettet. Ausbruchssicher, nicht wahr? Nur dass in der Nacht, bevor man ihm den Prozess machte, ein Engel des Herrn erschien. Der Engel leuchtete mit einem Licht in Petrus’ Zelle und weckte ihn auf. Als er erwachte, fielen die Ketten von ihm ab. Alle Wächter schliefen, und der Engel führte Petrus aus dem Gefängnis. Er brachte ihn zum eisernen Tor der Stadt, öffnete es, und Petrus war frei.«
    Nightingale blieb stehen, blickte zu dem Kruzifix auf und streckte die Hände mit den Handflächen nach oben seitlich aus. » Also, wie wär’s? Wie wäre es, wenn du dasselbe für meine Schwester tätest? Sie steckt vollkommen unschuldig in dieser Sache. Der Kerl, der ihr die Morde angehängt hat, ist ein Fan deiner Gegner. Warum nicht für ein bisschen ausgleichende Gerechtigkeit im Universum sorgen? Befreie meine Schwester doch. Der Teufel hat sie hinter Gitter gebracht, warum kannst du sie dann nicht da rausholen?«
    Er starrte das Kruzifix mehrere Sekunden lang an, seufzte dann und steckte die Hände in die Manteltaschen. » Da haben wir es doch, oder? Man betet um ein Wunder und geht leer aus. Man bittet um ein Zeichen, und es kommt keines. Aber wenn ich ein Pentagramm zeichne und die richtigen Worte sage, kann ich mit Teufeln reden und Verträge mit ihnen schließen. Warum kann ich denn deine Leute nicht herbeirufen? Warum gibt es tonnenweise Bücher, die mir sagen, wie ich Teufel beschwören kann, aber kein einziges, das mich im Herbeirufen von Engeln unterrichtet?«
    In der Ferne hörte er eine Polizeisirene und ein paar Sekunden später das Rattern eines Hubschraubers oben am Himmel.
    » Wie wäre es mit einem Zeichen? Einem Zeichen, dass du da bist und mir zuhörst?« Nightingale holte sein Päckchen Marlboro heraus. » Wie ich höre, ist Rauchen in Kirchen verboten, ist das