Buch des Flüsterns
fremde Sprachen, um ihren Verstand zu schärfen und etwas Geld mit nachhause zu bringen, in die arme biblische Welt, wo der Bergbewohner in die Ebene hinabstieg, die Wolle und den Käse seiner Schafe und Ziegen einzutauschen gegen das Mehl, die Früchte und das Gemüse der Leute, die das Land bearbeiteten. So sind die Melichianischen, etwas ältere Neffen von Großvater Setrak, nach Craiova gelangt. Und weil sie keinen Ort mehr hatten, in den sie hätten zurückkehren können, nachdem ihr Dorf durch Feuer und Schwert gegangen war, blieben sie in Craiova, fanden, wie schon berichtet, Großvater Setrak als Friseurgesellen in Odessa, dieser wiederum fand seine Schwester Satening in einem Waisenhaus in Aleppo und eröffnete einen Kolonialwarenladen, dessen Olivenbüchsen, Kakao- und Kaffeeschachteln, die ihm geblieben waren, nachdem die Kommunisten seinen Laden beschlagnahmt hatten, auch ich noch gesehen habe. Sie waren in Vorratskammern gepfercht worden und verschafften ihm die Illusion, eines schönen Tages sein Geschäft wiederaufnehmen zu können. Großvater Setrak hat meine Großmutter Sofia kennengelernt, die er heiratete, als sie kaum siebzehn Jahre zählte, dann wurde Tante Maro geboren und auf den Namen der älteren Schwester von Großvater getauft, die sich umgebracht hatte, indem sie sich ins Wasser des Euphrat stürzte, und etwas später kam Elisabeta, meine Mutter, die wiederum später meinen Bruder Melic, benannt nach dem legendären Urahn der Familie, dem Prinzen aus Urmia, geboren hat und danach mich, Varujan, was im alten Armenisch der Name eines Vogels ist, den es nicht wirklich gibt, der aber, wie der Flug, in jedem Vogel vorhanden ist, ich wiederum habe eine Tochter, Armine, was »kleine Armenierin« heißt, und sie wird sich meinen Urahnen ebenso anschließen wie meine Großmutter Arșalius, die Frau des anderen Großvaters, es angelegt hatte, als sie auf dem Innendeckel der Bibel die wichtigsten Geschehnisse ihres Lebens aufzeichnete. Namentlich das Niederbrennen der Häuser von Pera, die Flucht auf dem Schiff über den Bosporus, den Tod ihres Vaters Baghdasar Terzian auf der Brücke des Schiffes, die von Pater Ignadios vermittelte Heirat, die Geburt meines Vaters Bergi. Danach hat sie nichts mehr aufgeschrieben, rechnete damit, ihr Leben reiche nicht aus, einiges von dem, was ihr zugestoßen war, wieder zu vergessen. Es reicht jedoch aus, von Großmutter Arșaluis bloß zwei Dinge heraufzubeschwören: die Sanftmut, mit der sie das Brot und den
Vospabur
, die Linsensuppe, auf den Tisch stellte, sowie die Ruhe und das Leuchten, die sie ausstrahlte, wenn sie sich kämmte.
Mein Urgroßvater Krikor Vosganian wirkte auf den Fotos wie ein strenger Mann mit kräftigem gezwirbelten Schnurrbart und runder Brille mit schwarzem Rahmen. Er ist Angestellter gewesen, hatte eine schöne Handschrift und – seinem Erscheinungsbild sowie der Uhrkette nach, die ihm aus der Tasche hing – führte ein geordnetes Leben. Manchmal trug er einen Fes, so wie ich, sein Urenkel, in Europa einen Hut trage. Großvater Garabet habe ich niemals, nicht einmal auf Fotos, mit Fes gesehen. Er trug einen Hut, und zwar für die zwanziger Jahre einen ziemlich modernen, und einen langen Überzieher mit hochgeschlagenem Kragen. Es ist ziemlich lustig, an die eigenen Großeltern wie an zwei junge Leute zu denken, Großmutter, eine füllige Mignon mit leuchtenden grünen Augen und langem welligen Haar, das ihr in einer zärtlichen Bewegung über die Schultern fiel, mit flaumbedeckten Händen und Grübchen an den Fingerwurzeln, die besonders auffielen, wenn sie die Finger bog, um ihre Ringe zu zeigen. Während Großvater, einerseits würdig, andererseits romantisch, ein jugendlicher Liebhaber war, in den sich Großmutter für die fünfundvierzig Jahre, die ihnen für ihr gemeinsames Leben zugemessen waren, heillos verliebte. Großvater ging in Galați zu Pater Ignadios, dieser zog die an jedem Jahresanfang sorgfältig aktualisierte Liste hervor, auf der er mit einem dicken Strich die erledigten Namen getilgt und neue hinzugefügt hatte, diese trug er jedoch nicht am Ende der Liste ein, sondern dort, wo er es, nach allein ihm bekannten Kriterien, für angebracht hielt. So kam es, dass Großmutter am Anfang der Liste mit den heiratsfähigen Mädchen stand, die Pater Ignadios angelegt hatte. Großvater aber, der wie jeder Mann im kraftvollsten Alter meinte, ihm gebühre alles, mithin auch, die Liste von ihrem oberen Ende her anzugehen, erkor
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