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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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und wo sie vergraben worden sind, sie haben sich immerhin insoweit als nützlich erwiesen, als sie die Illusionen derer genährt haben, für die es sonst keine Hoffnung mehr gab. Was in jenen Zeiten nicht gerade wenig war.

FÜNF
    D iese Geschichte, die wir das
Buch des Flüsterns
nennen, ist nicht meine Geschichte. Sie begann lange vor meiner Kindheit, als man im Flüsterton sprach. Ja, sie begann sogar lange bevor sie ein Buch wurde. Und sie begann auch nicht im Focșani meiner Kindheit, sondern in Siwas, in Diarbekir, in Bitlis, in Adana und in der Region Kilikien, in Wan, in Trapezunt, in allen Wilajeten des östlichen Anatolien, wo die Menschen meiner Kindheit geboren wurden, die zu den Helden dieses Buches zählen. Ja, sie begann sogar noch sehr viel früher, und zwar mit den Legenden und Schrecknissen, welche die Greise meiner Kindheit in ihrer eigenen Kindheit gehört und nachempfunden hatten. Als es bloß ein paar durchstöberte und eher blutbefleckte denn gelesene Blätter gab; die Seiten des Buches fanden mit den Massakern der Jahre 1894/95 ihre Fortsetzung und mit dem erbitterten Widerstand des Bergvolks von Sasun, der Einwohner von Zeitun unter der Führung der Hânceag-Partei und der Fedajin aus Wan. Mit der Besetzung der Osmanischen Bank durch eine Gruppe von fünfundzwanzig bewaffneten Armeniern unter dem Kommando von Armen Garo, die ungefähr hundert Geiseln aus den Reihen der Bankangestellten genommen und gedroht hatte, den gesamten Schatz des Imperiums in die Luft zu sprengen, wenn die fremden Mächte nicht eingriffen und den Mord an den Armeniern stoppten, eine Tat, die von den Feinden der Armenier für den ersten terroristischen Akt der Geschichte gehalten wurde, während diejenigen, die sie begangen haben, sie für gerechtfertigt hielten, zielte sie doch darauf, die Aufmerksamkeit der gesamten Welt auf eine Tragödie zu lenken, die leider erst ihren Anfang genommen hatte.
    Vielleicht beginnt das
Buch des Flüsterns
in seinem tiefgründigsten Abschnitt sogar mit einem anderen Buch – denn wie die Menschen von Menschen geboren werden, gebären Bücher andere Bücher, die daraufhin alleine wachsen –, einem tausend Jahre früher geschriebenen Buch, das
Buch der Klagen
heißt und von Gregor von Narek geschrieben wurde. Dass das eine Buch ein Gebetbuch war und das Weinen als ein Linderungsmittel gegen die Zeitläufte galt, oftmals das einzige, beweist auch der Umstand, dass dieses Buch, ein Buch des Weinens, auch gegen Krankheiten eingesetzt wurde, man legte es, wenn nichts sonst mehr zu helfen schien, zu Kopfe des Kranken und hoffte auf Heilung. Dass jenes
Buch der Klagen
hieß, während dieses
Buch des Flüsterns
heißt, besagt nicht, dass der Weg vom Weinen zum Flüstern heilsam gewesen ist. Es besagt nur, dass die Menschen jener Zeit die Freiheit zu weinen noch nicht verloren hatten und Gott im von Gregor von Narek dem Herrn dargebrachten Lobpreis noch vorhanden war. Von jenem Weinen bis zu dem Flüstern hier wird nicht ein Leid durch ein anderes ersetzt, sondern allein zwischen dem Weinen und dem unterdrückten Weinen unterschieden. Im Jahrhundert meiner Geburt ist genauso viel Blut für eine Träne vergossen worden wie zu jener Zeit in hundert Kriegsjahren.
    Dann jedoch, wenn die Dinge sich hinsichtlich ihrer Chronologie klären, wenn die Menschen Namen zu tragen beginnen und Gesichter, und wir die Häuser ausfindig machen können, in denen sie gewohnt haben, die Straßen, auf denen sie gegangen sind, wenn wir die von ihnen gelesenen Bücher durchblättern können und anhand der Eselsohren oder manch einer Randnotiz ihre Gedanken zu verstehen versuchen, nun ja, dann beginnt auch unsere Geschichte im Jahre 1890, als Misak Torlakian in dem kaum zweihundert Seelen zählenden armenischen Weiler Ghiușana im Wilajet Trapezunt geboren wurde. Drei Jahre später ist in Afyionkarahisar mein Großvater geboren worden, Garabet Vosganian, der Vater meines Vaters. Sie konnten sich in ihrer Kindheit nicht kennengelernt haben, denn wenn Misak Torlakians Weiler im Norden ein paar Kilometer vom Meer entfernt lag, so befand sich Afyonkarahisar eher im Zentrum Anatoliens, und zu jener Zeit reisten die Armenier kaum. Und die Kinder noch weniger, selten einmal in die nächste Stadt, wie etwa mein Großvater mütterlicherseits, Setrak Melichian, der mit seiner Großmutter auf eine Pilgerreise nach Erzerum gegangen war. Weiter herum kamen die jungen Leute, die nach Europa reisten, um einen Beruf zu lernen oder

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