Buch des Flüsterns
glauben, man könne aus solcher Entfernung jemanden mit einer Pistole erschießen. Bloß treffen konnte man ihn, aber in diesem Fall richtete man – wie sich bald zeigen sollte – mehr Schaden an als Nutzen. Daidai Manuk hatte keine Ahnung, wer so etwas tun konnte, auch keiner seiner Fedajin, die, wenn sie sich vorgenommen hätten, Bahri Pascha zu ermorden, mit einem Karabiner von einem der umliegenden Gebäude herab geschossen hätten. Aber unabhängig davon, wer es getan hatte, absichtlich oder aus Zufall, die Armenier wurden für schuldig befunden, und der Statthalter des Wilajets Trapezunt, Kadri Bey, verlangte von den Armeniern, den Angreifer auszuliefern. Selbst wenn sie gewusst hätten, wer es war, wie konnten die Armenier so etwas tun? Wie auch immer, der Attentäter wurde nie gefunden, obwohl die Autoritäten sich kurz darauf brüsteten, ihn gefangen und bestraft zu haben.
Die Folgen sind nun nicht mehr Teil der Geschichte von Misak Torlakian, über diese neuen Tatsachen ist in Büchern geschrieben worden, in offiziellen Akten, und der einzige Abschnitt, den Misak noch hinzufügen könnte, ist der Anblick seines von denjenigen, die sich mit dem Gemetzel und den Raubzügen in Trapezunt nicht begnügten, niedergebrannten Dorfes.
Es war ein lebensfroher Hafen, der Hafen von Trapezunt; die Waren aus dem Orient nahmen hier ihren Weg nach Europa. Deshalb hatten beinahe alle Mächte der Welt in den von der Meeresbrise gebleichten Häusern Konsulate eröffnet. Es muss Kadri Bey, den Statthalter von Trapezunt, überrascht haben, am Morgen des 5. Oktober 1895 diese Delegation in seinem Büro antreten zu sehen; sie war auf ihre Art einmalig, eine derart breitgefächerte Nationenvertretung, wie man sie bis zur Unterzeichnung des Vertrags von Versailles wahrscheinlich nicht mehr erleben würde. Damals aber wütete kein Krieg in Europa, der die kontinentalen Mächte gegeneinander aufgehetzt hätte, und infolgedessen forderten die in Trapezunt ansässigen Vertreter von Großbritannien, Österreich-Ungarn, Belgien, Spanien, Frankreich, Griechenland, Italien, Persien und Russland einstimmig, der Statthalter von Trapezunt möge Maßnahmen zum Schutz der armenischen Bevölkerung ergreifen. Alles, was der Walit ihnen zusagen konnte, war, dass er aufgrund seiner Amtspflichten den Schutz des diplomatischen Corps gewährleisten könne, was etwa bedeutete, sie mögen sich um ihre eigenen Dinge kümmern. Mit von der Verwaltung ausgeteilten Waffen und unter dem Schutz der Polizei und ihrer Agenten, welche die armen Bevölkerungsschichten der Städte aufhetzten, begannen die Massaker, wie Zeugen berichteten, am 8. Oktober um elf Uhr mit Trompetensignalen. Übrigens taucht in allen Zeugnissen von den Massakern des Jahres 1895, landauf, landab, quer durch ganz Anatolien, von Trapezunt bis nach Adana, dieses für Friedenszeiten ungewöhnliche Detail auf: der Klang der Trompeten, der den Sturm auf die armenischen Wohnviertel ankündigte.
Laut offiziellem Kommunique der Regierung in Konstantinopel wurden an jenem Tag einhundertzweiundachtzig Armenier und elf Türken umgebracht. Die Schätzungen der europäischen Konsulate schwanken zwischen sechshundert und achthundert umgebrachten Armeniern, aber alle sind sich in einem Punkt einig: Es wurde kein einziger Türke umgebracht. Die armenischen Bischöfe, der orthodoxe und der katholische, haben die genauen Zahlen aufgrund der Namenslisten der Opfer aufbewahrt. Sie haben fünfhunderteinundneunzig umgebrachte Armenier gezählt. Zu denen noch einundachtzig Opfer aus den umliegenden Dörfern hinzugezählt werden mussten. Gewohnt, alles genau zu verzeichnen, haben uns die Bischöfe auch die Schadenslisten hinterlassen: einhundertfünfunddreißig geplünderte Geschäfte, tausendeinhundertsiebenundsechzig zerstörte Häuser und Schäden in Höhe von einhundertvierunddreißigtausendsechshundertacht türkischen Lira. An diesem Punkt der Geschichte zuckt Misak Torlakian ebenso wie jeder andere, der dies erzählt, mit den Schultern. Als hätte dies, nicht wahr, noch irgendeine Bedeutung, mit wie vielen verdammten türkischen Lire die armenischen Bewohner geschädigt wurden! Angesichts der mehr als zweihunderttausend Toten, die noch bis zum Ende des Jahres 1895 folgen sollten.
In einem Alter, da andere Kinder sich über Schulbücher beugen, schaute Misak Torlakian bei den ersten Exekutionen zu, die von der Justiz der armenischen Revolutionäre beschlossen worden waren. Kurz darauf bekam er seine
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