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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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auch in den erhebendsten Augenblicken stumm. Man hätte keinen unterschiedlicheren und deshalb passenderen Begleiter für General Dro finden können. Was ihn von jenem unterschied, ist klar. Passend war er deshalb, weil Misak Torlakians rauhes Leben ohne Wiederkehr bereit war, der Spur von Drastamat Kanayans Phantasmen bis ans Ende der Welt zu folgen. Schwerfällig und exaltiert in seinem Schweigen, hatte Misak Torlakian somit die Beharrlichkeit und Unerbittlichkeit eines Richters oder, wie man in seinen Biografien aus Gründen, die wir erfahren werden, schreiben wird, die Unerbittlichkeit eines
Nemesis
-Armeniers.
    Misak Torlakian war fünf Jahre alt, als während der Herrschaft von Abdul Hamid die ersten Massaker im Osmanischen Reich ausgelöst wurden. In Trapezunt begonnen, wurden sie in den von Armeniern bewohnten Wilajeten fortgesetzt und erreichten im Süden, gegen Adana hin, ihren Höhepunkt. Trapezunt war damals eine Stadt mit etlichen Zehntausend Einwohnern verschiedenster Herkunft, von den Türken, Cirkasiern, Kurden und Aseriern bis hin zu den Griechen, Georgiern und Armeniern. Um den Hafen herum pulsierte das Leben der Stadt, und von hier aus strebten schnurgerade Straßen mit Häusern ohne Innenhöfe, glatten weißen Wänden und Flachdächern bis hinaus in die Randquartiere, inklusive jener, die von Christen bewohnt waren. Die Nachrichten, meistens hatten sie mit dem Hafenleben, den ein- und auslaufenden Schiffen und Seeleuten zu tun, verbreiteten sich in Windeseile. Wie es auch damals geschah, als Bahri Pascha, der Statthalter aus Wan, auf dem Weg nach Konstantinopel in Trapezunt Station machte; er war aufgrund eindringlicher Forderungen ausländischer Mächte, die vielfach auf die an den Armeniern begangenen Grausamkeiten hingewiesen hatten, von seinem Posten abberufen worden. Die Zahl der auf seinen Befehl hin Ermordeten schätzte man auf etwa eintausend, und mehr als fünftausend zählten diejenigen, die Häuser und Güter zurückgelassen hatten und aus Angst vor Repressalien geflohen waren, wohin sie die Beine trugen. Allseits bekannt also für die an den Armeniern begangenen Greuel, wurde der Statthalter im Hafen von Trapezunt seitens der moslemischen Bevölkerung wie ein echter Held empfangen und unter Beifall bis ins Stadtzentrum begleitet. Vielleicht war der kleine Misak damals an der Hand seines Onkels Manuk Aslanian auch auf der Straße, eingemengt unter die schweigenden Armenier, die sorgenvoll den triumphalen Einzug von Bahri Pascha verfolgten.
    Die alten Leute meiner Kindheit erzählten sich untereinander von diesen Ereignissen. Die Begegnungen, an denen Frauen und Kinder nicht teilnahmen, fanden nachmittags beim Kaffeetrinken statt. Es muss überall gleich gewesen sein, in Bukarest, Constanța, Ploiești, Pitești und Craiova, im Hof von Nșan Hazarian, Kaufmann in Buzău, oder in den Häusern mit langer Veranda in der Moldau. Gemächliche Gespräche, so wie jene, bei denen ich in meiner Kindheit im Hof unseres Hauses in Focșani auf der Straße des 6. März 1945, Nummer 9, zugehört hatte; die Holzbänke und die mit Kissen gepolsterten Sessel kreisförmig im Schatten des Aprikosenbaumes angeordnet. Doch wenn der Gast aus einer anderen Stadt gekommen war, fand das Treffen im Hof der armenischen Kirche statt. Gerade deshalb hatten die armenischen Kirchen überall geräumige Höfe und Laubbäume, die – diese Anlagen waren allerorten mindestens zwei-, dreihundert Jahre alt – ausreichend Schatten spendeten und gastfreundlich wirkten. Jeder erzählte seine Geschichte oder die Geschichte anderer, denn man empfand auch Verantwortlichkeit vor denen, die nicht mehr lebten.
    Die Geschichte des Misak Torlakian begann am 2. Oktober 1895 so gegen fünf Uhr nachmittags, als Bahri Pascha in Begleitung von Hamdi Pascha, Militärkommandant in Trapezunt, auf der Promenaden-Allee das Stadtzentrum erreichte. Der Schuss war in den Ovationen ringsum nicht zu hören und wäre gänzlich unbemerkt geblieben, wenn Hamdi Pascha nicht gesehen hätte, dass Bahri Paschas Arm blutete. Es war eine Dummheit, sollte Misak Torlakian erzählen, aber nicht mit dem Schrecken des Kindes von damals, das an der Hand gehalten und weggezogen wurde, damit es nicht von der in alle Richtungen davoneilenden und schreienden Menge zerdrückt werde, während Bahri Pascha, von Soldaten umringt, in einem nahen Kaffeehaus in Sicherheit gebracht wurde, sondern mit der kühlen Gelassenheit und Weisheit des Fedajins. Es war eine Dummheit zu

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