Buch des Flüsterns
seinen größeren Bruder David als Brautwerber, und so machten sie sich beide auf zum Haus des Herghine Terzian, in dem es zwei Mädchen gab, beide waren schön, aber bloß eine, Großmutter Arșaluis, befand sich im heiratsfähigen Alter. Großvater kaufte eine Schachtel Bonbons mit einer Schleife darum und einen großen Blumenstrauß, den sein größerer Bruder David trug. Als sie durch das Fenster die beiden kommen sah und dachte, David sei der Bräutigam und nicht Garabet, dessen Aussehen ihr so gut gefallen hatte, versteckte sich meine zukünftige Großmutter Arșaluis in einer Vorratskammer und wollte diese nicht mehr verlassen. Erst nach langem Bitten kam sie wieder heraus, und als man ihr versichert hatte, der Brautwerber sei tatsächlich Garabet. Dem sie seinerseits auch gefiel, sodass sich alles nach Pater Ignadios Wohlgefallen zu fügen schien. Nur dass kurze Zeit darauf mein Großvater verschwunden ist, und die Gerüchte besagten, er sei über die Donau nach Silistra gegangen, wo er eine Geliebte hatte. Was sich als wahr erwiesen hat. Großmutter Arșaluis, so unverheiratet wie untröstlich, lag krank danieder, und weder die Riechfläschchen noch das Einreiben ihrer Schläfen mit Kölnischwasser erbrachten irgendeine Linderung. Großvater war lediglich schnell über die zugefrorene Donau nach Silistra gegangen, um seine bulgarische Geliebte zu sehen und sich für immer von ihr zu verabschieden. Mit von den Riechsalzen geröteten Nasenflügeln und in einer Wolke von Kölnischwasser war Großmutter sofort wieder bei sich, als er zurückkehrte, sie rannte die Treppe hinab und ordnete sich eilig die Haare, um unverzüglich ihrem Verlobten an den Hals zu springen. Und Pater Ignadios, bei der Hochzeit zugegen, zog seine Liste und setzte nach aufmerksamer Beobachtung, heimlich und voller Genugtuung, Tante Armenuhi, Großmutters Schwester, auf die Liste der Heiratskandidatinnen.
Wenn ich heute, in dem Alter, das Großmutter bei meiner Geburt hatte, darauf schaue, beginnt meine Erinnerung an die alten Großeltern schon zu verblassen. Und dies merke ich vor allem deshalb, weil Großvater Garabet es sehr gut verstanden hatte, sich die Erinnerungen an sich selbst zu bewahren. Mit seiner Künstlernatur hatte er begriffen, dass die Geschichte jedes einzelnen Menschen sich lediglich zu einem Teil aus dem wirklich in der Zeit Erlebten zusammensetzt, der Rest besteht zu gleichen Teilen aus den Dingen, an die man sich erinnert, aus Dingen, die man sich erhofft, und jenen, vor denen man sich fürchtet. Großvater hatte sich ein paralleles Leben aus Fotografien gebaut; in seiner Jugendzeit waren es zahlreiche, im Erwachsenenalter wurden sie weniger, und im Alter hatte er kaum noch welche. Lassen Sie sich nicht davon täuschen, dass im
Buch des Flüsterns
von den alten Leuten meiner Kindheit die Rede ist. Garabet Vosganian, einer der Helden dieses Buches, ist entgegen seinem Alter kein alter Mann. Im gleichen Maße, in dem ich heranwuchs und älter wurde, begannen meine Großeltern, jünger zu werden. Jetzt ist Großmutter eine schöne Heranwachsende, ihre Finger sind klebrig vom Saft der Trauben, und ihr Blick verliert sich in einem vom asiatischen Ufer des Bosporus dargebotenen Sonnenuntergang, während Großvater der junge Mann ist, der von Silistra kommend über die zugefrorene Donau reitet, um Großmutter zu freien, ihre Mutter Heghine und ihre Schwester Armenuhi, Letztere fehlt noch auf der Liste von Pater Ignadios, sind mit dabei in ihrem beengten Häuschen in Galați, wo es neben den fehlenden Weintrauben und den gerösteten Haselnüssen von zuhause noch den Unterschied gab, dass die Sonne über den Wassern – des Stromes und nicht des Meeres – nicht sank, sondern aufging.
Und ein paar Zeilen weiter wird Großvater Garabet noch ein Kind sein. Wenn nun die Seiten dieses Buches sich dergestalt fortschreiben und weiterblättern und ich im Alter voranschreite, werden meine Großeltern immerzu jünger, während ich ein alter Mann sein und sie wiegen werde, wir werden zusammen geboren werden und sterben.
Misak Torlakian jedoch beschäftigte sich nicht mit seinem Leben, ja er missachtete es geradezu. Eher hielt er seinen Träumen die Treue als den Wachzuständen. Ihm fehlte jeder Zauber, er war ein gedrungener und robuster Mann mit schwarzen Augen und ebensolchen Haaren, die sich dazu noch kringelten, was seiner in sich gekehrten Gestalt keineswegs hilfreich war, sich zu öffnen. Er war linkisch, und darum blieb er
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