Buch des Todes
führe das Buch ein eigenes, geheimes Leben. Das wollte ich kennenlernen. Klingt das sehr dumm?«
»Vielleicht nicht dumm, aber pervers und ziemlich egozentrisch.«
»Wenn Sie sich erst einmal entschieden haben, einVer brechen zu begehen, öffnen Sie in gewisser Weise einen Raum in ihrem Innern, der bis dahin verschlossen war. Dieser Raum ist nur für einen selbst, für niemanden sonst. Manche Menschen brauchen einen solchen inneren Raum, in dem andere Regeln gelten als in der Welt um uns herum.Vielleicht bin ich auch so ein Mensch. Deshalb erschien mir der Gedanke, das Johannesbuch für mich selbst zu behalten, als durchaus denkbar.«
Seine überraschende Ehrlichkeit brachte sie aus dem Konzept. Es war schwierig, nicht eine gewisse Sympathie für diesen Mann zu empfinden.Vermutlich war er ein besserer Mensch als sein Sohn.Aber dennoch jemand, der gegen das Gesetz verstoßen hatte.
»Schon verrückt, dass ausgerechnet Sie mich festnehmen«, sagte er. »Eine Freundin von Shaun.«
»Shaun und ich waren auf derselben Schule«, sagte Felicia Stone, »aber Freunde waren wir nicht.« Sie bereute ihre Worte, kaum dass sie über ihre Lippen gekommen waren. Das war der Anfang eines Gesprächs, von dem sie nicht wusste, wohin es führen würde. Die Antwort, die sie von Nevins erhielt, war überraschend.
»Es gibt zwei Arten von Menschen«, sagte er und schien einen Moment nachzudenken. »Solche, die Shaun mögen, und solche, die das nicht tun. Das war schon so, als er ein kleiner Junge war.Am Anfang habe ich das nicht verstanden. Ich dachte, dass einige Leute ihn offenbar missverstanden. Aber inzwischen habe ich begriffen, warum das so ist. Es gibt nämlich mindestens zwei Ausgaben von Shaun Nevins. Und die eine davon ist nicht einfach zu mögen, nicht einmal für einen Vater. Und nun droht ihm auch noch dieses Verfahren.«
»Verfahren?«
»Ich verstehe gar nicht, warum ich Ihnen das erzähle«, sagte Nevins, »aber der gute Ruf unserer Familie ist jetzt wohl ohnehin nicht mehr zu retten. Bei dem Verfahren geht es um sexuelle Nötigung. Eine Sekretärin aus Shauns Büro hat ihn angezeigt, ganz grässliche Dinge getan zu haben. Ein Vater sollte seinem Sohn immer den Rücken stärken, aber ich werde den Verdacht nicht los, dass ihre Anschuldigungen vermutlich stimmen. Macht mich das zu einem schlechten Vater?«
Felicia Stone hatte das schon häufiger erlebt.Wenn man einen Verbrecher entlarvt und er gestanden hatte, konnte es passieren, dass er sich plötzlich voll und ganz öffnete, als gäbe es keine Geheimnisse mehr.Wie gleich sie doch alle wurden, wenn sie ihr Inneres nach außen kehrten, wie Nevins jetzt! In dem Moment gab es keinen Unterschied mehr zwischen einem gebildeten, aristokratischen Büchermenschen, einem kaltblütigen Mörder und einem Zuhälter.
All die Jahre hatte sie gedacht, Shaun Nevins wäre davongekommen und sie allein ahnte, was für ein Teufel sich hinter der glatten Maske versteckte. Jetzt zeigte sich, dass es ihm doch nicht gelungen war, sein wahres Gesicht zu verstecken. Scheiße stinkt, und sogar sein eigener Vater hatte diesen Gestank gerochen.
Sie sah zum Krangsås-Hof hoch. Sie näherten sich dem Gatter, das auf den Hofplatz führte.
»Ich habe keine Ahnung, was für ein Vater Sie waren, Nevins.Aber Ihren Sohn so zu sehen, wie er ist, macht Sie sicher nicht zu einem schlechten Vater.«
»Seine Ehe ist kaputt, er wird geschieden werden. Das Urteil wird wohl auf Bewährung ausgesetzt, aber er wird auf unbestimmte Zeit seine Anwaltsbewilligung verlieren. Ich bin nicht mehr stolz auf ihn.Aber ich glaube, ich liebe ihn trotzdem noch. Seltsam.«
»Vielleicht kann das ein Neuanfang für Sie beide werden«, sagte sie matt. Es fühlte sich an, als hätte sich irgendwo in ihrem Innern ein Blutpfropf gelöst.Als strömte plötzlich frisches Blut in ganz neue Bereiche ihres Bauchraums.Vielleicht war das einfach nur Erleichterung. Der Wunsch, Nevins wehzutun, war wie weggeblasen. Den Rest sollte die norwegische Polizei erledigen. Sie war fertig mit ihm.
Frau Inger von Austrått hatte während langer Strecken des Reformationsprozesses in Norwegen in persönlicher Fehde mit dem mächtigen Erzbischof von Nidaros, Olav Engelbrektsson, gelegen, bis dieser 1537 das Land verlassen musste.Aber er ging nicht mit leeren Händen in die Niederlande, sondern nahm viele Besitztümer der Kirche mit.Auf dem Weg über den Trondheimsfjord unternahm er überdies einen letzten Raubzug bei seiner Erzfeindin, der
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