Buch des Todes
auf die gleiche Art und Weise ums Leben gekommen sein mussten.Aber als Archäologe kann man anhand von Knochenfunden natürlich nicht mit Sicherheit feststellen, wie jemand vor fünfhundert Jahren gestorben ist. Das Ganze war ziemlich spekulativ. Der Artikel hat aber trotzdem ziemliches Aufsehen erregt, das weiß ich noch. Das Interessanteste an dieser Ausgrabung war aber der Fund des Johannesbuches .«
»Das Johannesbuch ?«
»Ja, eine der wichtigsten Quellen für das Leben im Mittelalter hier in der Region Trøndelag. Ein Buch, eine Hand schrift auf Pergament, aus einer Zeit, in der das Papier eigentlich immer üblicher wurde. Geschrieben von einem Geistlichen auf Fosen, unmittelbar nach der Reformation. Ein ganz besonderes Kleinod, speziell bekannt für seine erstaunlich guten medizinischen Kenntnisse. Und für seine Aphorismen.«
»Aphorismen?«
»Ja, kluge Sinnsprüche.Wie zum Beispiel dieser hier: ›Das Zentrum des Universums ist überall und sein Umkreis nirgends‹. Für die Forscher sind besonders diese Aphorismen interessant. Warum zum Beispiel schreibt Johannes vom Universum und nicht von Gott? Hat er seinen Glauben verloren? Ist er ein nordischer Repräsentant der aufkeimenden wissenschaftlichen Strömung der Renaissance? Und wo kommt dieser Johannes überhaupt her? Hat er an einer Universität studiert? Der erwähnte Aphorismus ist auch noch aus anderen Gründen sehr interessant. Bereits zweihundert Jahre vor Christi Geburt wird nämlich in einem Buch, das wir Corpus Hermeticum nennen und das zu den Schriften der Gnostiker gehört, festgehalten: ›Gott ist eine intelligible Sphäre, deren Zentrum überall und deren Umkreis nirgends ist.‹ Und im Jahr 1100 verwendet der französische Theologe und Poet Alain de Lille exakt dieselben Worte in einem seiner Texte. Fast fünfhundert Jahre später, 1584, schreibt der Mystiker Giordano Bruno in Italien: ›Das Zentrum des Uni versums ist überall und sein Umkreis nirgends.‹ Interessant daran ist, dass diese Worte mehrere Jahrzehnte nach der Entstehung des Johannesbuches Mitte des 16. Jahrhunderts niedergeschrieben wurden.Aber damit nicht genug.Wiederum zweihundert Jahre später schreibt der Mathematiker und Philosoph Pascal: ›Die Natur ist eine unendliche Sphäre, in der das Zentrum überall und der Umkreis nirgends ist‹. Dieses immer wieder auftauchende Zitat wurde unter anderem von dem argentinischen Schriftsteller Jorge Luis Borges in seinem 1944 erschienenen Buch Ficciones aufgegriffen. Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie wir uns ständig wiederholen, immer wieder, und dass nur wenige Gedanken wirklich originell sind.Aber Borges schrieb vor dem Fund des Johannesbuches darüber und bezieht sich natürlich nicht auf diese Quelle. Trotzdem sind es solche Dinge, die zu der Mystik dieses merkwürdigen Textes beitragen und die es den Forschern so schwer machen, daraus schlau zu werden.War Pastor Johannes ein Mystiker oder eine Art Gnostiker, oder war er bloß ein Freigeist, der den Glauben an Gott als sammelnde Kraft aufgegeben hatte?« Jens Dahle verstummte.Wenn er über sein Fachgebiet sprach, tauchte er in eine ganz eigene Welt ab.
»Dieses Buch muss ein sagenhafter Fund gewesen sein.Wie kommt es, dass man so etwas auf einem Friedhof findet?«, fragte Singsaker.
»Wir haben das Buch nicht auf dem Friedhof gefunden. Die Bauersleute hatten es in ihrem Regal stehen, ohne überhaupt zu wissen, was für einen bedeutsamen Schatz sie da hüteten. Das Buch war seit dem 19. Jahrhundert auf dem Hof. Ich habe es eines Abends entdeckt, als sie mir einen Kaffee anboten. Der Bauer erzählte mir eine seltsame Geschichte, wie das Buch in den Besitz der Familie gelangt war. Sein Ururgroßvater hatte es bekommen.«
»Bekommen?«
»Ja. V or mehr als hundertundfünfzig Jahren war überraschend ein feiner Herr aus der Stadt auf seinem Hof aufgetaucht. Der Mann hatte sich als Büchersammler vorgestellt und den Wunsch geäußert, das Buch den Bewohnern des Hofes zu überlassen. Der Ururgroßvater des Bauern hatte natürlich wissen wollen, warum. Der Mann antwortete ihm, dass das Buch dorthin gehöre. Laut Aussage des Ururgroßvaters hatte der Mann auch einen Fluch erwähnt, der auf dem Buch liege, und dass dieser Fluch an einem einzigen Ort unwirksam sei, nämlich auf ebenjenem Hof. Weiterhin deutete der Mann an, das Buch sei von einem Mörder geschrieben worden, bevor dieser den Hof verlassen habe und nie mehr zurückgekommen sei. In der Familie des Bauern wurde
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