Buddhas kleiner Finger
betrifft, so ist es der trefflichste Ratschlag, den man sich vorstellen kann. Darauf hätte ich eigentlich selber kommen müssen. Richtig! Anstatt sich von jedem neuen Nachtgespenst, das dein überreiztes Bewußtsein produziert, in Angst und Schrecken versetzen zu lassen.«
»Wie denn nun«, unterbrach ich ihn erneut, »produziert mein überreiztes Bewußtsein Gespenster, oder ist es selbst ein Gespenst?«
»Ist doch dasselbe!« Tschapajew winkte ab. »Diese Konstruktionen sind dazu da, daß man sich ihrer ein für allemal entledigt. Leb in der Welt, in der du dich gerade befindest, richte dich nach ihren Gesetzen, und benutze sie, um dich über sie zu erheben. Die Entlassung, Petka, das ist es.«
»Ich glaube, die Metapher leuchtet mir ein«, sagte ich. »Aber was kommt dann? Werden wir uns wiedersehen?«
Lächelnd verschränkte Tschapajew die Arme vor der Brust.
»Das kann ich dir versprechen.«
Plötzlich klirrte es, und die obere Fensterscheibe fiel prasselnd ins Zimmer. Der Stein, der sie durchschlagen hatte, prallte gegen die Wand, ging dann neben dem Schreibtisch nieder. Tschapajew trat zum Fenster und spähte vorsichtig auf den Hof.
»Die Weber?« fragte ich.
Tschapajew nickte.
»Die sind sternhagelvoll«, sagte er.
»Warum stellen Sie Furmanow nicht zur Rede?«
»Der! Der hat sie doch nicht im Griff«, antwortete Tschapajew. »Furmanow ist nur deswegen noch Kommandeur, weil er ihnen genau die Befehle erteilt, die sie hören wollen. Der braucht nur ein einziges Mal danebenzuliegen, und sie suchen sich einen neuen Natschalnik.«
»Wenn ich an die Leute da unten denke, wird mir, ehrlich gesagt, mulmig«, sagte ich. »Die Situation ist völlig außer Kontrolle geraten, möchte ich behaupten. Denken Sie nur nicht, daß ich zur Panikmache neige, aber der Moment dürfte nicht fern sein, da wir … Bedenken Sie, was sich seit Tagen hier abspielt.«
»Heute abend wird sich alles entscheiden«, sagte Tschapajew und sah mich durchdringend an. »Aber wenn dich diese Situation so beunruhigt – wie wäre es, wenn du die Sache selbst in die Hand nähmst? Biete doch den Leuten ein bißchen Unterhaltung. Es kann nicht schaden, den Anschein zu erwecken, als ließen wir uns mit Freuden in diese Orgie hineinziehen. Sie sollen glauben, daß alle im selben Boot sitzen.«
»Und wie soll das gehen?«
»Nachher wird hier eine Art Konzert veranstaltet – die Soldaten führen einander vor, was sie … na, alle möglichen Kunststückchen eben. Da könntest du ihnen gut etwas Revolutionäres zum besten geben, so wie damals in der ›Spieldose‹.«
Der Vorschlag ärgerte mich.
»Ob ich mich dem Niveau einer solchen Veranstaltung anpassen kann, erscheint mir fraglich. Ich fürchte …«
»Du fürchtest? Eben sagtest du noch, du fürchtest gar nichts«, fiel Tschapajew mir ins Wort. »Sieh die Sache nicht so eng. Letzten Endes gehörst du genausogut zu meiner Mannschaft wie die da draußen. Ist es zuviel verlangt, denen mal zu zeigen, was du so draufhast?«
Für einen Augenblick meinte ich aus Tschapajews Worten reichlich Spott herauszuhören, womöglich sogar eine Anspielung auf den Text, den ich ihm eben zu lesen gegeben hatte. Vielleicht aber, dämmerte mir sodann, wollte er mir etwas anderes zeigen. Betrachtet man nämlich das, was Leute tun, aus nüchterner Perspektive, so verliert sich beizeiten jede Hierarchie – und zwischen einer Petersburger Dichterkoryphäe und der Stimmungskanone eines Kavallerieregiments ist kein gravierender Unterschied mehr zu registrieren.
»Schön«, sagte ich. »Ich werd's probieren.«
»Freut mich«, erwiderte Tschapajew. »Dann bis heute abend.«
Er drehte sich zum Sekretär um und vertiefte sich in die dort ausgebreiteten Feldkarten. Auf eine von ihnen war ein Stapel Papier gerutscht, darunter ein paar Telegramme und zwei, drei rotversiegelte Päckchen. Ich knallte die Hacken zusammen (Tschapajew schien den Sarkasmus dieser Geste geflissentlich zu übersehen) und verließ den Raum, rannte die Treppe hinunter und prallte in der Tür mit Anna zusammen, die eben vom Hof hereinkam. Sie trug ein hochgeschlossenes, fast bis zum Boden reichendes Kleid aus schwarzem Samt; es stand ihr besser als alles, was sie zuvor getragen hatte.
Daß ich mit ihr zusammenprallte, ist wörtlich zu verstehen; für einen Moment hielt ich sie in meinen instinktiv ausgestreckten Armen – unbeabsichtigt, ungeschickt und deshalb nicht minder erregend. Im nächsten Moment taumelte ich, wie von einem
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