Buddhas kleiner Finger
auf jeden zutreffen.«
»Schon klar«, sagte Wolodin und beugte sich über seinen Teller.
Ich langte nach der Kanne, um mir Tee ins Glas zu gießen, doch Maria schüttelte den Kopf.
»Würde ich Ihnen nicht raten«, sagte er leise. »Brom. Führt zum Absterben der natürlichen Sexualität.«
Wolodin und Serdjuk tranken den Tee umstandslos.
Nach dem Essen wurden wir in den Schlafsaal zurückgebracht, worauf sich Barbolin sogleich verzog. Meine drei Nachbarn, die den Tagesablauf hier anscheinend gewohnt waren, schliefen ein, kaum daß sie in ihre Betten gekrochen waren. Ich lag ausgestreckt auf dem Rücken und starrte lange Zeit zur Decke, den für mich seltenen Zustand völliger Gedankenlosigkeit genießend – vielleicht ein letzter Ausläufer der Wirkung meiner Morgenspritze.
Eigentlich ist das Wort »Gedankenlosigkeit« nicht ganz zutreffend, schon weil mein Bewußtsein, von allen Gedanken befreit, weiterhin auf äußere Reize reagierte, wenn auch ohne jede Reflexion. Und da ich merkte, daß mein Kopf zu denken aufgehört hatte, war der Gedanke, ohne jeden Gedanken zu sein, bereits geboren. Es zeigte sich, daß die vollkommene Abwesenheit von Gedanken ein Unding ist, denn sie ist nicht zu registrieren. Sie wäre sozusagen gleichbedeutend mit dem Nicht sein.
Den Zustand fand ich jedenfalls wunderbar, weit entfernt vom gewohnten Ticken des eingefahrenen Verstandes. Es gibt ja Menschen, die sich um die eigenen psychischen Abläufe nicht kümmern. Ein bestimmter Zug an ihnen hat mich stets besonders verblüfft. Sie können lange Zeit abgeschottet von äußeren Reizen leben, vollkommen bedürfnislos – und plötzlich, ohne jeden sichtbaren Auslöser, setzt sich ein willkürlicher psychischer Prozeß in Gang, der sie zu unvorhersehbaren Handlungen treibt. Auf den außenstehenden Beobachter muß das verrückt wirken: Da liegt einer auf dem Rücken, eine Stunde, zwei oder drei, und plötzlich springt er auf, fährt in seine Latschen und läuft in unbekannte Richtung los – weil irgendein Gedanke ihn aus irgendeinem Grund (vielleicht auch völlig grundlos) auf ein bestimmtes Gleis gesetzt hat. Die meisten Leute sind so, und diese Schlafwandler bestimmen den Lauf der Dinge auf dieser Welt.
Das meine Lagerstatt umgebende Universum war voll von Geräuschen der verschiedensten Art. Einige vermochte ich zuzuordnen – das Klopfen eines Hammers auf der Etage über uns, das etwas entferntere Rütteln des Windes an den Fensterläden, das Krakeelen der Krähen –, und dennoch blieb das meiste unklar. Einfach sagenhaft, wieviel Neues sich dem Menschen eröffnet, wenn es ihm auch nur für eine Sekunde gelingt, das mit versteinertem Trödel vollgestopfte Bewußtsein zu räumen! Wir wissen nicht einmal, woher die meisten der Geräusche kommen, die wir hören – von allem übrigen ganz zu schweigen. Welchen Sinn kann es demnach haben, mit dem wenigen, was wir von der Welt zu wissen glauben, nach Erklärungen für unser Schicksal und unsere Handlungsweisen zu suchen! Genauso hoffnungslos wie der Versuch, das Innenleben einer wildfremden Person mit hirnrissigem Sozialkitsch zu erklären, wie Kanaschnikow es tut, dachte ich, und mir fiel plötzlich meine dicke Akte ein, die bei ihm auf dem Tisch lag. Ich dachte daran, daß Barbolin beim Weggehen vergessen hatte, die Tür zu verriegeln. Und sogleich, im Bruchteil einer Sekunde, entfaltete sich in meinem Kopf ein irrwitziger Plan.
Ich sah mich um. Seit Beginn der Mittagsruhe waren bestimmt schon zwanzig Minuten vergangen, und meine drei Zimmergenossen schliefen. Das ganze Haus schien entschlummert zu sein – bisher war kein Mensch auf dem Gang vorbeigelaufen. Vorsichtig warf ich die Decke ab, fuhr in meine Latschen, stand auf und schlich mich zur Tür.
»Wohin?« flüsterte es in meinem Rücken.
Ich drehte mich um. Aus der hintersten Ecke des Zimmers blickte mich das forschende Auge von Maria an – in dem schießschartenartigen Spalt zwischen dem Laken und der Decke, die er sich über den Kopf gezogen hatte, konnte ich es sehen.
»Aufs Klo«, flüsterte ich zurück.
»Sei nicht zickig!« wisperte Maria. »Dort steht der Topf. Vierundzwanzig Stunden Gummizelle, wenn sie es mitkriegen.«
»Lieber aufrecht und im Stehen«, entgegnete ich und schlüpfte auf den Gang hinaus.
Er war leer.
Ich erinnerte mich dunkel, daß Professor Kanaschnikows Arbeitszimmer neben einem hohen, halbrunden Fenster lag, hinter dem ich die Krone eines riesigen Baumes gesehen hatte. Der Gang, auf
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