Buddhas kleiner Finger
Budenfenstern ins Auge. Eigentlich, dachte er deprimiert, ist Rußland auch ein Land der aufgehenden Sonne – schon deshalb, weil sie es hier noch nie so richtig bis zum Zenit geschafft hat. Er beschloß, daß diese Beobachtung es wert war, Kawabata mitgeteilt zu werden. Als der jedoch mit dem langen, schmalen Bündel unterm Arm aus dem Laden kam, war der Gedanke bereits wieder verflogen und an seine Stelle jener Mordsdurst getreten, dem keine andere Regung gewachsen war.
Kawabata schien die Sachlage schnell erfaßt zu haben. Kaum daß sie sich ein paar Meter von der Bude entfernt hatten, legte er sein Bündel unter einen nassen, schwarzen, aus einem Loch im Asphalt wachsenden Baum und sagte:
»Wie Sie sicher wissen, trinken wir Japaner unseren Sake heiß. Erst recht wird ihn keiner direkt aus der Flasche zu sich nehmen – das widerspricht zutiefst den Ritualen. Und auf der Straße zu trinken ist nun wirklich das Letzte. Eine alte Sitte gibt es allerdings, die erlaubt, es dennoch zu tun, ohne das Gesicht zu verlieren. Man nennt sie ›Reiter auf dem Rastplatz‹ oder anders übersetzt: ›Müder Reiter‹.«
Kawabata ließ kein Auge von Serdjuk, während er die Flasche aus der Manteltasche zog.
»Der Überlieferung zufolge ist der große Dichter Ariwara Narichira vorzeiten einmal als Jagdbote in die Provinz Ise entsandt worden. Der Weg dorthin war weit, man ritt zu Pferde und brauchte viele Tage. Es war Sommer. Narichira ritt in Gesellschaft von Freunden, und seine edle Seele war von Gram und Liebe voll. Als die Reiter müde wurden, saßen sie ab, um sich mit einem schlichten Mahl und einigen Schlucken Sake zu stärken. Da sie keine Räuber anlocken wollten, mieden sie es, ein Feuer zu entzünden, und tranken ihn deshalb kalt. Sie deklamierten einander wunderbare Verse, die davon handelten, was sie unterwegs gesehen hatten, und davon, was ihnen am Herzen lag. Daraufhin setzten sie ihre Reise fort.«
Kawabata entfernte den Schraubverschluß.
»Soweit die Geschichte, auf die die alte Sitte zurückgeht. Trinkt man den Sake auf diese Weise, geziemt es sich, an die Männer jener hohen Zeit zu denken, und allmählich sollen unsere Gedanken hineinfinden in eine lichte Melancholie, wie sie sich in unseren Herzen regt, wenn wir uns der Haltlosigkeit dieser Welt bewußt werden und zugleich von ihrer Schönheit gefangen sind. Lassen Sie uns miteinander …«
»Gerne«, sagte Serdjuk und griff nach der Flasche.
»Nicht so hastig«, sagte Kawabata und entzog sie ihm wieder. »Da Sie erstmals an diesem Ritual teil nehmen, darf ich erst einmal die Abfolge der einzelnen Handlungen sowie deren Bedeutung erläutern. Tun Sie mir alles nach, und ich werde Ihnen den symbolischen Sinn dessen, was sich vollzieht, auseinandersetzen.«
Kawabata stellte die Flasche neben dem Bündel ab.
»Als erstes müssen die Pferde angebunden werden«, sagte er.
Er zog einen der unteren Äste des Baumes zu sich herab prüfte, ob er fest genug war, und ließ dann den Arm um ihn kreisen, so als wickelte er ein Seil darum. Serdjuk begriff, daß er es ihm nachtun mußte. Er hob die Arme zum nächsthöheren Ast und ahmte die Gesten ungefähr nach. Kawabata sah ihm aufmerksam dabei zu.
»Nein«, sagte er. »So ist es ihm unbequem.«
»Wem?« fragte Serdjuk.
»Ihrem Pferd. Sie haben es zu hoch angebunden. Wie soll es da grasen? Nicht nur Sie sollen sich erholen, sondern auch Ihr treuer Gefährte.«
Auf Serdjuks Gesicht spiegelte sich Verständnislosigkeit, und Kawabata seufzte.
»Verstehen Sie doch, um dieses Ritual zu vollziehen, müssen wir uns in die Heian-Zeit zurückversetzen«, erklärte er geduldig. »Wir durchreiten gerade die Provinz Ise, zur schönsten Sommerszeit. Ich bitte Sie inständig, binden Sie die Zügel woanders an.«
Serdjuk sah ein, daß es klüger war, nicht zu streiten. Erst beschrieb er mit den Armen einen Kreis um den oberen Ast, dann noch einen um den unteren.
»Das sieht schon besser aus«, sagte Kawabata. »Als nächstes haben Sie in einigen Versen festzuhalten, was Sie in Ihrer Umgebung sehen.«
Er schloß die Augen, blieb eine Weile still und stieß dann einen langen Schwall kehliger Laute hervor, an dem Serdjuk weder Reim, noch Rhythmus erkennen konnte.
»Es ging ungefähr um das, was wir bereits besprachen«, erklärte er anschließend. »Daß unsichtbare Pferde unsichtbares Gras zupfen und daß dies doch weit wahrhaftiger ist als beispielsweise der Asphalt hier, den es im Grunde ja nicht gibt. Das Ganze auf
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