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Büchners Braut: Roman (German Edition)

Büchners Braut: Roman (German Edition)

Titel: Büchners Braut: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Klepper
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auf dem Mittelmeer, auf der »Inconstant« von Livorno nach Elba. Es gab so vieles! Und selbst ihr Vater sagte, er könne die Welt nicht überschauen und schon gar nicht die Menschen.
    ***
    Schon am frühen Morgen waren sie aufgebrochen, fast noch in der Dämmerung. Bald sahen sie andere Stellwägen, überfüllt mit Menschen. Kutschen und alle möglichen Karren zogen nach Waldersbach. Oberlin war gestorben. Am 5. Juni 1826 war die Beerdigung. Jaeglé hielt die Trauerandacht.
    Sogar die Magd greinte, da sie nicht mitkommen durfte, auf den Kleinen aufpassen sollte. Louis-Theo saß neben Minna in der Kutsche, noch verschlafen, ein pickeliger, langgliedriger Junge, dem die Hosen zu kurz geworden waren. Wenig sprach er und wenn, dann auf Englisch, er hatte das Englische für sich entdeckt, und er hielt sich im Gymnasium an die Naturwissenschaften. Very exciting, Minna, really!, sagte er, dann fragte er noch: What about Frederick?
    Minna zuckte die Schultern. You mean Friedrich? Nothing about him!
    Heute würde sie ihn sehen, Friedrich wird in der Trauergemeinde gemeinsam mit der Familie Oberlin gehen, und Minna wusste, ihre Traurigkeit hatte nichts mit ihm zu tun, auch nicht mit der Trauer um Oberlin. Die empfand sie nicht, und es tat ihr nicht leid. Ihre Traurigkeit gehörte bestenfalls dem schalgrauen Gesicht ihrer Mutter, die wieder etwas aushalten musste, oder ihrem Vater, der von früh bis spät arbeitete und die Mutter übersah, aber am ehesten noch gehörte ihre Traurigkeit ihr selbst, ihr ganz allein. Mein Trübsinn! Ma tristesse! My sadness!
    Waldersbach ging in einem Meer aus Köpfen unter, das den Vormittag über anschwoll, die Grenzen des Ortes überschwappte, die Zufahrten verstopfte. Aus dem ganzen Elsass war die Geistlichkeit angereist, alle Bewohner der acht Gemeindeorte waren da und viel Volk aus den umliegenden Dörfern und Städten. Greise nahmen es auf sich, stundenlang zu stehen, Familien mit kleinen Kindern auf dem Arm, alle, alle wollten ihn noch einmal sehen, kamen gelaufen, gehinkt, gehetzt. Oberlin lag imPfarrhof in einem glasgedeckten Sarg. Bis alle Seelen seiner Gemeinde daran vorbeigezogen waren, vergingen zwei Stunden.
    Jaeglé hatte sich als Präsident des Konsistoriums im Wissen um Oberlins Zustand auf diesen Tag vorbereitet, der Nachruf und die Predigt hatten ihm tagelang Arbeit bereitet, und trotzdem schien er von der Menge dieser Leute verunsichert. Er, mit seiner mächtigen beleibten Statur, im schwarzen Ornat, den flackernden Blick über die Leute gerichtet, diese wogende Seelenmenge, die schluchzend oder still greinend, gebeugt oder mit gerecktem Hals alles zu fassen suchte, was dort am Sarg vor sich ging. Mäuler standen offen, Blicke gierten oder neigten sich, Köpfe wurden geschüttelt oder nickten einander zu.
    Im Pfarrhof an der Gartenmauer fanden die Jaeglés einen Platz, die Mutter, Minna und Louis-Théodore. Sie waren früh da gewesen, sahen jetzt die Bürgermeister und Ältesten der acht Dörfer vortreten, die den Sarg tragen sollten. Zusammen mit Jaeglé und Pfarrer Braunwald, dem Vizepräsidenten, stellten sie sich im Kreis um den Sarg. Jaeglé legte die Pfarrer-Amtstracht und Braunwald die Bibel auf den Sarg. Das Raunen der Menge stockte kurz, als wäre dies der Höhepunkt des Abschieds von Oberlin. An den knitterigen Mündern und braunrissigen Wangen der Altengesichter vorbei sah Minna die Rauschers stehen, zusammen mit den anderen Kindern und Enkeln Oberlins, in tiefem Schwarz. Madame Rauscher mit rotgeweinten Augen. Hinter ihr Friedrich, einen Kopf größer als sie, die Trauer mit Ernst getragen, schön und ratlos, von Minna unendlich weit entfernt.
    Sie stellt sich auf Zehenspitzen und schaut, schaut über alle, sucht und sucht nichts weiter, als was sie schon sieht, viele, viele Menschen, Angesichter, Seelenwohnungen. Ihre Kehle wird trocken vom Atmen mit offenem Mund, das Stehen wird schwer, die Menge presst sie gegen die Mauer in ihrem Rücken. Lieber Gott, lasse mich – bitte – bitte – im Leben nichts aushalten müssen!
    Louis-Théodore hob neugierig den Kopf, sie sahen nun Oberlins Gehilfin Louise Scheppler aus dem Haus kommen mit einem schmiedeeisernen Kreuz, das sie dem Ältesten der Gemeinde übergab. Der würde damit den Trauerzug anführen. Nun fingen Louis-Théodores Schultern an zu zucken, er vergrub sein Kinn in seinem Kragen, ein kieksendes Geglucker brach aus ihm heraus.
    Theo? Minna stieß ihn an. Er schüttelte den Kopf. Sorry, sorry!
    Theo,

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