Büchners Braut: Roman (German Edition)
Zylinder in der Hand. Groß war er, hatte eine Pelerine mit Pelzkragen umgelegt. Hinter ihm die Häuser und Bäume im vorwinterlichen Tristesse-Kleid. Braun, grau und still. Doch, ein wenig war die Sonne da gewesen, mittags, vorhin. Aber nicht jetzt. Der Mann wandte sich ihr zu, die hohe Stirn, die blonden, gewellten Haare, blasses Augenblau im stechenden Jungmännerblick. Ihre Stimme suchte den richtigen Namen.
Nein, nicht George durfte sie sagen.
Louis! Oh, Ludwig, wie schön!
Trocken war ihr Mund, der Ton belegt, überrascht. Aber sie lachte nun. Es war wie vor Jahren. Die Ähnlichkeit Ludwigs mit seinem Bruder war groß, war noch größer geworden! Er war nicht mehr der sechzehnjährige Junge aus Darmstadt, der nicht wusste, wohin mit seinem blitzenden Geist und dem heißen Übermut. Er hatte sich jetzt im Griff, grüßte zuvorkommend.
Mademoiselle Jaeglé, bonjour! Minna, Sie erlaubten mir den Besuch.
Er verneigte sich leicht und gewandt. Er würde für ein Jahr in Straßburg studieren.
Auf den Wunsch des Vaters hin, Sie wissen. Medizin.
Minna wusste. Es war wie bei Georg.
Minna lebte erst seit ein paar Wochen bei den Schmidts. Sie bemerkte es selbst, wie unsicher sie Ludwig durch das Haus führte, bis nach oben. Da sonst keiner zu Hause war, gab es keine Vorstellungen.
Schade, Ludwig, Sie werden mit mir vorliebnehmen müssen.
Ludwig warf erstaunte Blicke auf Minnas Bücherregal im Präsentierzimmer. Gerade war es eingeräumt.
Einiges aus dem Restbestand der Bibliothek meines Vaters, erklärte sie. Mein Bruder und ich, wir mussten das meiste veräußern, damals.
Ach so. Ja, Ihr Bruder. Wie geht es ihm?
Er ging nach England, beruflich. Er leitet eine Chemiefabrik in London. Und da ich jetzt allein bin … Nun, ich weiß nicht, ob ich nochmals eine Gouvernantenstelle annehme. Womöglich.
Dies war ein schlechtes Gesprächsthema für Ludwig. Wie könnte er ihr Rat geben, wie ihr Leben weitergehen sollte? Es wäre doch sicher ein guter Verdienst, meinte er, als sie Teegebäck auf den Tisch stellte. Alleinstehende Frauen sind als Gouvernante gut aufgehoben. Minna kannte dies. Was sollte er schon sagen.
Man stellt sich so vieles vor. Man möchte so vieles tun, nicht wahr, Ludwig?
Ludwig wusste nicht, was sie eigentlich damit meinte. Sie war so zurückhaltend zu ihm. Das Gespräch wurdegefährlich hölzern. Dabei hätte sie doch einmal seine Schwägerin werden sollen. Er verstand es nicht.
Minna hätte nun gerade ein Lied summen mögen. Mädel, was fangst jetzt an? …
So wie sie oft in Georgs Anwesenheit ein Lied summte, bis er sie bat, lauter zu singen.
… Hast ein klein Kind und kein’ Mann!
Ei was frag ich darnach,
Sing ich die ganze Nacht …
Ein eigentümlich mädchenhaftes Gesicht hatte Minna jetzt. So jung und verloren, dachte Ludwig, so jung wie im September 34, bei ihrem Vorstellungsbesuch zu Hause in Darmstadt. Aber das ist zehn Jahre her.
Minna blieb ernst und still. Dieser Funken innere Heiterkeit. Was denkt sie? Trauert sie nun, oder hat sie den Bruder schon vergessen?
Sie werden in den Ferien sicher auch nach Darmstadt gehen. Nehmen Sie für Mutter Büchner von mir einen guten Kräutertee mit. Der aus den Bergen, sie mochte ihn so.
Jetzt sprach wieder eine reife Dame.
Aber ja, Mademoiselle Minna.
Diese Ferienwochen! Ich zog Georges Ferientage von meinem Leben ab, wie den Schlaf von meinen gelebten Tagen.
Zwei Atemzüge lang musste Ludwig diesen Satz erst erfassen. Zu unerwartet wurde ihm dieses Zeugnis ihrer alten Liebe zugetragen.
Ist es noch schwer für Sie, Minna?
Es war schwer und es ist schwer, alleine zu sein.
An diese Frau hatte sein Bruder Liebesbriefe geschrieben. Er selbst, der kleine Bruder, hatte auch Briefe von Georg aus Straßburg erhalten. Einmal zu Silvester schrieb er:
»Prost Neujahr Hammelmaus! Ich höre, dass Du ein braver Junge bist, die Eltern haben ihre Freude an Dir. Mache, dass es immer so sei.« Versprochen hatte ihm der große Bruder in diesem Brief, dass er mit ihm aufs Straßburger Münster ginge, an den Rheinfall nach Schaffhausen und an den Vierwaldstättersee. Nichts davon wurde wahr. Er war die Hammelmaus und die Frau dort drüben die Braut. Nur Georgs Braut. Nichts wurde wahr.
***
Ludwig wird später behaupten, sein Bruder Georg sei doch eher Sozialist als Republikaner gewesen. Zu diesem Urteil fand er durch Georgs Freunde und durch das, was Minna ihm erzählte.
Während seiner Zeit in Straßburg besuchte Ludwig Minna öfter. Sie holte
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