Bußestunde
schwarze Schiff, das lautlos unter einer geöffneten Brücke durch flüssiges Gold gleitet. Es ist das Bild des Todes. Das Bild des Todes mitten im Leben.
Denn noch lebt er, Viggo Norlander. Im Lauf eines Jahres ist an seinem Körper auf eine Weise geschnitten und geschnibbelt worden, die er nicht für möglich gehalten hätte. Dazu ist seine zerschnittene Bauchhöhle auch in ziemlich rücksichtsloser Art und Weise mit allerlei Gammastrahlen bestrahlt worden, sodass sein Bauch, das alte Waschbrett, auf das er so stolz gewesen war, jetzt ganz andere Muster aufweist als gerade muskuläre Linien. Er gleicht eher einem chaotischen Spinnennetz von Narben und Brandwunden, einer Art brodelnder Eruption von Sedimenten, bei der verschiedene Zeitalter ihre Spuren hinterlassen haben, die ein erfahrener Schönheitschirurg vermutlich unterscheiden könnte wie ein Geologe. Der erste große Schnitt vor ziemlich genau einem Jahr. Die Brandwunden von der anschließenden Strahlenbehandlung. Die Entdeckung zurückgebliebener Krebszellen, die vielleicht, vielleicht nicht gestreut hatten. Neue Operationen, neue Strahlentherapie, dann Zytostatika, diese schrecklichen Medikamente, die das Dasein im Takt mit Büscheln fallenden, einst so schick transplantierten Haars ins Wanken brachten.
Er fühlt sich wie der Greis, der er nie hat werden wollen. Außerdem sieht er inzwischen auch aus wie ein Greis, ohne Haare, mit pergamentartiger Greisenhaut. Als habe ihn das Altern vor den Augen seiner Töchter ganz einfach eingeholt.
Seine Lebensgefährtin Astrid und die Töchter Charlotte und Klein Sandra haben das Ganze verfolgt. Er hat sie so nah wie möglich bei sich haben wollen. Die ganze Zeit über hat er geglaubt, er würde sterben. Und gleichzeitig hat er das Unausweichliche mit seiner ganzen nicht gerade geringen Dickköpfigkeit bekämpft.
Aber jetzt sind sie nicht da. Schule und Kindertagesstätte haben wieder angefangen – nach einem Sommer, in dem sie nicht gerade viel zu lachen hatten, die Ärmsten.
Wie groß sie geworden sind.
Und wie viel Unnötiges sie zu sehen bekommen. Sollte er es ihnen lieber ersparen? Sich still zurückziehen? Einfach in den Wald gehen und verschwinden wie ein alter Indianer?
Nein, verdammt, er hat nicht vor zu sterben. Noch nicht.
Bald wird er in seinen albernen Pantoffeln und seinem noch alberneren Krankenhausmorgenrock hinaufschlurfen in die Pflegeabteilung 36 im sechsten Stock, wo Patienten mit Krebs im Bauch und andere Herumtreiber ihre unsicheren Tage verbringen. Aber jetzt noch nicht. Eine kleine Weile will er noch sitzen bleiben. Als wollte er die letzten Sonnenstrahlen in sich aufsaugen, die vielleicht zum letzten Mal in diesem Jahr Blattgold über der Wasserfläche des Mälarsees auszubreiten vermögen.
Eine Stunde hat er dort gesessen. Es ist eine sonderbare, still stehende Stunde gewesen. Er ist der Zeit entrückt gewesen, doch nicht wie im Tod. Eher auf eine intensivere Art des Lebens. Leben ohne Zeit.
Eine merkwürdige Stunde.
Die Prognosen kann man nicht hoffnungsvoll nennen, das weiß er, aber er hat beschlossen, nicht aufzugeben. Nicht einmal im Augenblick des Todes wird Viggo Norlander aufhören, gegen den Tod zu kämpfen. So viel weiß er.
Sehr viel mehr weiß er nicht über die Zukunft.
Aber ein bisschen mehr erfährt er in dem Augenblick, als ihn auf unergründlichen Wegen eine SMS erreicht. Er holt das Handy aus der Tasche des Morgenrocks, zusammen mit einem Knäuel grüner Fäden, die ihn davor warnen sollen, das Handy in der Tasche zu haben. Ganz ohne die Irritation, die vor nur einem Jahr diese Geste begleitet hätte, zupft er nacheinander die Fäden ab und denkt, dass dies vielleicht Lebensweisheit ist.
Ganz einfach Sinn für Proportionen.
Angesichts des Todes wird das Wichtige plötzlich wichtig und das Unwichtige unwichtig.
Zeit also, denkt er und liest die Nachricht auf dem Handy. Da steht: »Es ist gerade vier Uhr geworden. Die Stunde des Umbruchs ist vorüber. Habe gerade eine Rede gehalten, die drei Familienmitglieder dazu brachte zu kotzen. Ich sage nicht, welche. Hast du in der Besuchsstunde heute Abend Zeit für einen Weißfinnen?«
Und da, im selben Moment, in dem sich weit in der Ferne die Brücke wieder senkt und das schwarze Schiff im Goldglanz verschwindet, fängt Viggo Norlander an zu lachen. Er lacht so, dass er weint, und er weint so, dass er lacht. Ein Glück, dass niemand ihn hört.
Als ob das noch eine Rolle spielte, denkt er und schreibt ein
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