Bußestunde
schwierig.
Er sieht wieder zu Danne auf. Der Sohn seinerseits blickt ungeduldig auf die Uhr, und Paul spürt eine widerwillige Irritation darüber. Über diese Miene moralischer Überlegenheit. Über eine gewisse Streberhaftigkeit, von der er hofft, dass die konkrete Polizeipraxis, die im nächsten halben Jahr ansteht, sie abschleifen wird.
Sie haben miteinander geredet, Vater und Sohn, nicht ganz ungezwungen, aber sie haben auf jeden Fall über Dannes seltsame WG mit drei anderen Polizeischülern in Frösunda geredet und über die neue Wohnung von Mama Cilla auf Gärdet, in die sie gezogen ist, nachdem auch die Tochter Tova das Reihenhaus in Norsborg verlassen hatte. Offenbar hat Cilla auch einen Freund – aber da die Kinder zum Zeitpunkt der Scheidung im Großen und Ganzen mündig gewesen waren, gab es keine konkreten Gründe, auf dergleichen zu achten. Er hoffte, dass sie glücklich war, und mehr interessierte ihn nicht.
Tova, ja. Danne und er warten auf sie. Die alte Unart, überall zu spät zu kommen, hat seine Tochter anscheinend nicht abgelegt. Die Zwanzigjährige macht sich überhaupt ziemlich rar, und sie haben sich den ganzen Sommer über nicht gesehen. Paul überschlägt rasch und kommt zu dem Ergebnis, dass sie sich vier ganze Monate nicht getroffen haben. Das Letzte, was er von ihr gehört hat, war, dass sie Theaterwissenschaft studierte. Doch er weiß nicht, ob sie dabei geblieben ist. Ihm fällt auf, dass er viel zu wenig über sie weiß.
Wie lange muss man wegen seiner Kinder ein schlechtes Gewissen haben?
Ist es eine lebenslängliche Strafe?
Paul Hjelms Handy klingelt. Er nimmt es und sieht auf das Display. Eine SMS von einer unbekannten Nummer: »Wir müssen uns akut unterhalten. Montag, 9.00 Uhr. BK.«
Er betrachtet das Handy. Er braucht lange, um sich klarzumachen, dass BK die Initialen des Säpo-Chefs sind. Des Generaldirektors und Sicherheitspolizeichefs BK.
Akut?, denkt er und hat das Handy noch nicht eingesteckt, bevor ein Schatten darauf fällt. Ein sehr schmaler Schatten.
Plötzlich steht ein Wesen neben dem Tisch im Gartenrestaurant Lasse i Parken , ohne einen Ton von sich zu geben. Als sähe man ein Gespenst. Oder eher ein Skelett. Das Wesen ist so dünn, dass es aussieht, als könne es jeden Augenblick in der Mitte durchbrechen. Nur das schwache Lächeln in dem ausgezehrten Gesicht lässt Paul begreifen, dass es tatsächlich seine Tochter Tova ist, die hier neben ihm steht.
Die Woge der Gefühle, die Paul Hjelm in diesem Augenblick überkommt, vereint all seine Angst, all seinen Schmerz, all seine Unzulänglichkeit und konzentriert sie in einem einzigen diamantharten Augenblick der Schwärze.
Danne auf der anderen Seite des Tischs steht auf, und gerade als er etwas schreien will, verlassen wir sie und begeben uns stattdessen durch den Pålsundpark hinunter zum Pålsund, der Södermalm von Långholmen trennt. Noch liegen alle Boote im Wasser und säumen den Sund bis raus zum Mälarsee, aber wir biegen ab, fahren über die Brücke nach Reimersholme hinaus, und wo die Liljeholmsbucht schmaler wird, zunächst Bergsunds Strand und auf der Höhe des kleinen Pontonbadehauses von 1929 dann Hornstulls Strand heißt, folgen wir dem Wasser des Mälarsees bis zur hohen Liljeholmsbro, die gerade offen steht und zum Verdruss der Verkehrsteilnehmer ein langsames Frachtschiff durchlässt. Auf der anderen Seite der Brücke erheben sich die markanten Höhen von Tanto, mit ihrer Bebauung von pittoresken kleinen Gartenhäuschen bis zu mafiosen Millionenkolossen, in deren Schatten ein unverkennbarer Riesenbau seine grau melierten Fassaden ausbreitet. Das ist das Söder-Krankenhaus, und in dessen Garten, auf einer Parkbank zwischen schattigen Laubbäumen und mit Aussicht auf Årstaviken, sitzt ein völlig kahler Mann in einem hässlichen grünen Morgenrock. Er streichelt mit der einen Hand sanft sein heimliches kleines weiches Amulett in der Tasche des Morgenrocks und knetet mit der anderen seinen Bauch. Sein Blick wandert über die funkelnde Wasserfläche, vorbei an der parallelen Konstruktion der Årstabro – die alte und die neue Eisenbahnbrücke Seite an Seite – und weiter zu dem Spalt, der sich in weiter Ferne genau dort auftut, wo sich die Liljeholmsbro öffnet. Er sieht die schwarze Silhouette des Frachters durch eine Fläche von schierem Gold gleiten und glaubt, diesen Anblick schon einmal gesehen zu haben. In seinen Träumen. In den Träumen in der unmittelbaren Nähe des Todes. Das
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