Bußestunde
dessen Fähigkeit, zuweilen den Nagel auf den Kopf zu treffen. »In gewisser Weise schon«, räumte er ein. »Da ist jedoch immer auch eine Art sportliche Leistung mit im Spiel. Hier geht es um nichts anderes als das Aussehen. Der Triumph der Oberfläche.«
»Frauen und Schwule sind oberflächlich«, sagte Anderson mit Grabesstimme. »Und heterosexuelle Männer sind tiefsinnig.«
»Jaja«, sagte Chavez.
Und dann tauchten sie wieder ab in ihre jeweiligen virtuellen Meerestiefen.
»Interessant«, sagte Jon Anderson nach einer Weile.
»Riesig«, knurrte Chavez kurz angebunden.
»Es gibt bei Lisa Jakobsson eine Werbemail, die über Anamagica informiert.«
»Aber du hast doch das ganze Mailprogramm schon durchsucht?«
»Ja klar«, sagte Anderson. »Ein einziger Treffer bei Anamagica, und die Mail ist schon sattsam bekannt. Diese hier ist aber falsch geschrieben, mit zwei ›n‹: ›Annamagica‹.«
»Hmmm«, machte Chavez wie Sherlock Holmes und nahm die Finger von der Tastatur.
»Ich habe es doch geahnt, dass ich dir damit diesen Laut entlocken würde«, sagte Anderson.
»Und wann kam diese Werbemail?«
»Am Tag bevor Lisa Jakobsson die Seite www.thinspiration.se besuchte und ihr Interesse bekundete.«
Chavez rieb sich das Kinn und sagte: »Sie hat also nicht von sich aus dahingefunden, sie wurde dahingelockt.«
»Sieht ganz danach aus. Aber von einer ganz anderen E-Mail-Adresse.«
»Und mit falsch geschriebenem Medikamentennamen … Wird thinspiration.se darin erwähnt? Ich nehme an, du hast auch unter ›thinspiration‹ gesucht?«
»Ja …«, sagte Jon Anderson zögernd. »Aber jetzt sehe ich, warum ich da keinen Treffer bekommen habe. Das Wort ist mit einem Bindestrich in der Mitte geschrieben, also ›thin‹ Bindestrich ›spiration‹.«
Da stand Chavez auf, ging um den gemeinsamen Schreibtisch herum und schaute auf Jon Andersons Monitor. Er las laut vor: »›Weltbeste Medizin für Gewichtsabnahme. Soeben eingetroffen: Eine Speziallieferung des mit Abstand weltweit besten Gewichtsverminderungspräparats, das je entwickelt wurde, Annamagica. Du findest es unter www.thin-spiration.se.‹«
»Und es kommt von einer anderen Mailadresse«, sagte Jon Anderson.
»Das hier ist etwas ganz anderes, oder? Wie hast du es gefunden?«
»Ich bin sämtliche Mails im Papierkorb durchgegangen. Das waren einige.«
»Und hier steht am Ende auch: ›Lösche und vernichte diese E-Mail.‹«
»Manchmal ist es direkt ein Glück, dass die Leute sich nicht gut mit ihren Computern auskennen.«
»Du sagst es«, gab Chavez zurück. »Wenn dies hier auch von Tiina Spinroth geschrieben wurde, dann unter ganz anderen Prämissen als bei jenen Mails, die sie alle im Mailprogramm stehen ließ. Hier schreibt sie von einer anderen Adresse aus und Anamagica außerdem mit zwei ›n‹, damit die Mail nicht gefunden werden kann, etwa von der Polizei.«
»Gibt es bei Louise Strömberg etwas Ähnliches?«, fragte Anderson.
»Gute Idee«, sagte Chavez und lief hinüber zu seiner Seite des Schreibtischs. Er bearbeitete flott die Tastatur und hatte binnen Kurzem die Antwort.
»Nein, nichts. Entweder hat Louise Strömberg die Aufforderung beherzigt und die Mail wirklich gelöscht, oder an sie ist keine geschickt worden.«
»Man kann das auf zweierlei Weise verstehen«, sagte Jon Anderson. »Entweder ist Tiina Spinroth ganz einfach hungriger zu diesem Zeitpunkt – sie will schneller vorankommen, will viele Opfer möglichst rasch. Sie findet ein Register über bekannte Anorektikerinnen und arbeitet das ab. Oder sie hat es wirklich zum ersten Mal auf ein spezielles Opfer abgesehen.«
»Du meinst, dass die früheren nur zur Vorbereitung dienten?«, fragte Chavez.
»Das bleiben ja Hypothesen, bis wir kontrolliert haben, was von dieser Hotmail-Adresse verschickt wurde.«
»Aber nicht einmal dann haben wir Gewissheit, weil sie für jede sogenannte Werbemail eine andere Mailadresse benutzt haben kann.«
Jon Anderson streckte seinen langen Körper nach hinten über den Bürostuhl, der dadurch auf einmal ganz klein aussah. Dann erklärte er: »Deshalb glaube ich wirklich, dass es eine gültige Hypothese ist. Spinroths Hass auf Anorektikerinnen ist echt. Es ist ein allgemeiner Hass. Aber er hat auch eine spezifischere Seite, und der nähert sie sich jetzt. Es ist etwas, was in der Vergangenheit liegt. Als sie ihre Opfer mehr nach dem Zufallsprinzip wählte, ging es schief. Nicht mit den ersten, nicht mit Åsa Karlsson und Louise
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