Bußestunde
war im Begriff, sich totzuhungern, und nichts in ihm verstand das. Nichts. Nicht eine einzige Zelle in seinem ganzen Körper konnte es verstehen, am wenigsten die Gehirnzellen. Tova. Seine kleine Tova.
Er saß in seinem ziemlich eleganten Zimmer in dem Teil des Polizeipräsidiums von Stockholm, in dem sich die Sektion für interne Ermittlungen befand. Er war der Chef von deren Stockholmer Abteilung und hatte nur einen einzigen Menschen in der gesamten Polizeihierarchie über sich. Der hieß Niklas Grundström und war ein anderes Kapitel. Paul Hjelm saß da, in seinem Machtsessel, an seinem Machtschreibtisch, und fühlte sich vollkommen machtlos.
Er war in Gedanken wieder im Café Lasse i Parken , in dem Moment, als Tova an den Tisch trat und Danne aufsprang und voller Entsetzen, das sich wie üblich als Zorn maskierte, schrie: »Was zum Teufel hast du mit dir gemacht? Bist du völlig verrückt geworden?« Und natürlich waren es Paul Hjelms eigene Worte gewesen, die Danne über die Lippen gekommen waren, unzensiert, unreflektiert. Er selbst hatte ganz still dagesessen, am Boden zerstört. Danne lief weg, Tova winkte ihm mit einer unbeholfenen Geste nach, und Paul betrachtete seine Kinder, er blickte Danne nach, der mit hochmoralisch taktfesten Schritten auf der Högalidsgatan verschwand, und er sah Tova an, die ebenfalls im Begriff war zu verschwinden, wenn auch auf ihre ganz eigene Weise. Schließlich tippte er auf den Platz neben sich. Sie umarmte ihn und setzte sich zu ihm. Es fühlte sich an, als hielte man ein Skelett im Arm. Ein warmes Skelett.
Zuerst saßen sie nur da und sahen einander an. Er nahm ihre Hand. Sie war so unglaublich schmal. Sie verschwand einfach in seiner.
Sie unterhielten sich eine Weile, sehr leise. Sie hatte weiterstudiert, Theaterwissenschaft, aber er hatte den Eindruck, dass sie nicht sehr oft in der Uni gewesen war. Sehr vorsichtig wandte er seine professionelle Verhörtechnik an. Vielleicht merkte sie es, aber sie blieb zumindest sitzen. Was er herausbekam, war, dass Tova im Grunde ihre gesamte wache Zeit darauf verwendete, Kalorien zu jagen – oder was man nun in diesen Zeiten von glykämischem Index und Glyx-Diät jagte. Alle ihre früheren Pläne, alle Ambitionen, der ganze Wille, alles hatte sich transformiert in den Kampf um einen möglichst schlanken Körper.
Aber er verstand noch immer nicht, warum.
Sie hatten sich freundschaftlich verabschiedet, als Vater und Tochter. Sie war in ihre Richtung gegangen und er in seine. Was ihn betraf, ging es hinunter zur Slipgatan, hundert Meter von Lasse i Parken entfernt, hinein in einen ziemlich schrecklichen Abend mit alkoholgetränkten Nebeln der Trauer, die schließlich, zu nachtschlafender Zeit, eine Form fanden. Eine Fakten suchende Form. Und dem ging er jetzt am Morgen nach. Schon viel zu lange. Der Computer zeigte nun »Montag 08.54« an.
In der letzten Zeit war die Anzahl der Fälle von Selbstverstümmelung und Anorexie bei jungen Frauen drastisch gestiegen. Natürlich waren dabei maßgeblich Scham- und Schuldgefühle involviert, aber es gab auch ein neues Element.
Jetzt wollte man es auch noch deutlich zeigen.
Selbstdestruktive Männer machten ihre gegen sie selbst gerichtete Destruktivität zum Mythos und schlugen Kapital daraus. Rockmusiker, die eine Überdosis nehmen und an ihrem eigenen Erbrochenen ersticken, Drogen konsumierende Schriftsteller mit Kultstatus, und jetzt lebte sogar eine ganze Fernsehindustrie davon, dass sich mehr oder minder schwachsinnige Männer immer verrückteren Widerwärtigkeiten und Leiden aussetzten, Sendungen wie Jackass , Dirty Sanchez , es gab noch mehr davon.
Vielleicht gab es doch eine Verbindung zwischen der ausgelebten männlichen Selbstdestruktivität und Phänomenen wie »thinspiration« und »Pro-Ana«. Was ganz einfach – oder ganz kompliziert – Begriffe waren für Magersüchtige, die sich zu neuen Großtaten in der edlen Kunst des Hungerns anstachelten. Die Filme, die Paul Hjelm auf Videoseiten wie YouTube zu sehen bekam, waren maßlos erschreckend. Mädchen, die sich selbst im Zustand völliger Unterernährung filmten. Mädchen, die in unendlichen Bildfolgen Prominente mit deutlichen Essstörungen zeigten, als Inspiration für noch fortgeschrittenere anorektische Übungen.
An Hunger zu sterben war das Ideal.
Das äußerste Wohlfahrtsideal.
Mit dem Gefühl, einen Blick in die Hölle geworfen zu haben, in die Hölle seiner eigenen Tochter, sah er, wie sein Computer die
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