Bußestunde
er sie auf einer ihn etwas überraschenden Chatseite erwischt, aber alles in allem war sie die perfekte Sekretärin. Auf eine träge Art immer zur Stelle.
Er betrat sein Zimmer und schloss die Tür gründlich. Dann öffnete er die Akte. Obenauf lag eine kurze Einführung, von der er den bestimmten Eindruck hatte, dass sie mit einem französischen Federhalter der Marke Waterman geschrieben war. Er nahm das Blatt heraus, legte es oben auf die Akte und las: »Bis auf Weiteres kannst Du in Deinen eigenen luxuriösen Räumlichkeiten weiterarbeiten. Und natürlich kein Wort zu irgendjemandem in der ganzen weiten Welt. Formal bist Du weiterhin der Chef der internen Stockholm-Abteilung. Verbrenne dieses Papier. Oder nein, das Sprinklersystem könnte anspringen. Dieses Material gibt es nämlich in keinem Computer. Behandle es mit Sorgfalt. Lass es nicht nass werden.«
Das war alles sehr seltsam. Was war eigentlich geschehen? Was für einen merkwürdigen Auftrag hatte er erhalten? Und was genau bedeutete »verschwunden«?
Gerade als Paul Hjelm die Akte endgültig öffnen wollte, fiel sein Blick auf zwei Fotos auf seinem Schreibtisch. Sie standen schon so lange da, dass er sie nicht mehr wahrnahm. Als er vor fünf Jahren in dieses Zimmer eingezogen war, hatte er reflexhaft zwei aktuelle Fotos seiner Kinder aufgestellt. Der zwanzigjährige Danne als Literaturstudent, der sich noch keinen moralisch steifen Rücken zugelegt hatte.
Und Tova als Teenager.
Er nahm das Foto und betrachtete es genau. Dieses widerwillige Lächeln unter der immer noch sehr adretten blonden Frisur. Eine Standardpose.
Hatte er sich je die Mühe gemacht zu verstehen, wie sie dachte und fühlte? Hatte er jemals hinter diesen Teenagertrotz geblickt, den sie zu Hause zeigte, der aber außer Haus vermutlich Verzagtheit war? Hatte er seine Tochter eigentlich jemals als Individuum gesehen, das die Welt auf seine ganz eigene Art wahrnahm? Als wirklichen Menschen?
Ich habe nichts gesehen und nichts verstanden, dachte er. Ich habe mir nicht die Mühe gemacht, habe nicht die Zeit gehabt, sie zu sehen. Ich sollte mir jetzt die Zeit nehmen. Sollte mir jetzt die Mühe machen. Ich sollte ihr das Leben retten können.
Hier und jetzt sollte ich Urlaub nehmen und das Leben meiner anorektischen Tochter retten.
So saß Paul Hjelm mit Tovas Foto in der einen Hand und Tores Akte in der anderen da. Aber das Gewicht der Waagschalen war zu gleich, als dass er sich hätte entscheiden können.
Er war, ob er wollte oder nicht, ein Mann seiner Zeit.
Er seufzte, stellte seine kleine Tova auf ihren Platz neben Danne und schlug die Akte mit dem merkwürdigen Bericht über einen Mann namens Tore Michaelis auf.
3
Kerstin Holm blickte sich in der sogenannten Kampfleitzentrale im Stockholmer Polizeipräsidium um. Dies war ihr Erbe. Aber mehr auch nicht. Und bis hierhin hatte es ihr genügt. Es hatte ausgereicht, um sie zu einer einigermaßen glücklichen Frau zu machen.
Sie war sich nicht sicher, ob das noch immer der Fall war.
Die Kampfleitzentrale war seit der Gründung der A-Gruppe vor zehn Jahren stets der Fixpunkt bei ihren gemeinsamen Anstrengungen gewesen. In diesem immer tristeren kleinen Sitzungsraum – dessen starker Kontrast zu echten, militärischen, hochtechnologischen Kampfleitzentralen der Grund dafür war, dass der Name so gut zur A-Gruppe passte – hatten sich ihre Mitglieder versammelt, Jahr für Jahr, mit ihren eigenen Gedanken und Ideen und Ergebnissen – und in der Regel waren sie selbst in diesem Schmelztiegel, in dem ihre Worte sich begegneten und größer wurden, umgeformt und zugespitzt worden. Von außen war es kaum zu sehen. Es war einer der Räume, die die Reichspolizeibehörde tunlichst nicht vorzeigte, wenn ausländische Besucher herumgeführt wurden. Es kamen regelmäßig Delegationen aus aller Welt, um zu besichtigen, was an schwedischer Polizeitechnologie zur Verfügung stand. Diese Delegationen gelangten nie in die Nähe der Flure, in denen die Sondereinheit für Gewaltverbrechen von internationalem Charakter hauste – und am allerwenigsten in die Nähe der Kampfleitzentrale.
Das war der Nachteil, wenn man einer gedanklich intensiven Tätigkeit nachging. Denken kann man überall, argumentierte die Reichspolizeiführung, und um sich zu unterhalten, reichen ein paar Sitzplätze aus, je unbequemer, desto besser. Die Kampfleitzentrale von heute war eine konkrete Manifestation des Glaubens an kreative Askese. Oder – um es nicht unnötig
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