Bußestunde
stellte fest, dass das Eis gebrochen war. Das stimmte hoffnungsvoll. Es erschien ihr möglich, dass die Kampfleitzentrale wieder zu einer Quelle des Glücks werden könnte.
»Wie gut ihr zusammenarbeitet«, sagte sie neutral.
Nyberg und Söderstedt sahen sich an. Ihre Blicke waren mehr verwundert als irritiert.
»Wenn es darum geht, andere Menschen übers Ohr zu hauen, kennt die Phantasie keine Grenzen«, sagte Gunnar Nyberg dumpf.
»Ich möchte es wagen, einmal eine kleine Hypothese aufzustellen«, erklärte Arto Söderstedt treu seiner Gewohnheit. »Irgendwann im Verlauf des letzten Jahrzehnts ist es spaßiger geworden, Geld auf illegale Art zu verdienen als auf legale. Die große Bedrohung unserer westlichen Gesellschaft ist die Tristesse. Wir suchen Spannung um jeden Preis. Wir behaupten, wir hätten so wenig Zeit, aber das ist nur Gerede. Dass alle Bereiche unseres Lebens immer effizienter gestaltet werden, hat dazu geführt, dass wir immer mehr Zeit zur Verfügung haben – wir müssen nicht mehr so viel Zeit und Kraft für grundlegende Lebensbedürfnisse aufwenden. Aber statt zu lesen oder uns auf andere Art und Weise weiterzuentwickeln, erleben wir dies als Leere. Die Leere der Tristesse muss mit Spannung aufgefüllt werden. Wir suchen Spannung in Form von sexuellen Eskapaden, Spiel und Risiko oder Ungesetzlichkeiten. Was immer den Puls höher schlagen lässt. Es ist verdammt noch mal viel spannender, sich Geld zu ergaunern, als es zu verdienen. Außerdem kommen wir auf die Weise um Steuern herum. Nichts verschafft einem heutzutage so viel Genugtuung, wie mit einem krummen Ding Erfolg zu haben, einem heimlichen Geliebten, einer Gaunerei im Netz oder einem Chat mit einem unbekannten Verrückten, den man aufs Kreuz legen kann, ohne Konsequenzen zu befürchten. Gegen geschriebene oder ungeschriebene Gesetze zu verstoßen verschafft uns die Spannung, die uns offensichtlich in unserem wohlbehüteten westlichen Wohlfahrtsdasein fehlt.«
Kerstin Holm blickte in die Runde. Artos politische Vorträge konnten das Auditorium zuweilen zu lauten Stoßseufzern veranlassen. Aber diesmal war es nicht so, denn jeder fühlte sich ein wenig angesprochen. Dies war wirklich die ideale Zeit, sich weiterzubilden, sich Fähigkeiten der einen oder anderen Art anzueignen, viel zu lernen. Wenn wir nicht so viel Zeit damit verbrächten, darüber zu jammern, wie wenig Zeit wir haben, würden wir merken, dass wir viel mehr Zeit haben, als wir glauben.
»Danke«, sagte Kerstin Holm. »Also ziehen wir die Schlinge etwas enger um einen Hacker namens Dr. Mrs Nora Higgins. Wie beurteilt Europol den zeitlichen Aspekt?«
»Es kann sich nur um ein paar Tage handeln«, sagte Söderstedt. »Kaum mehr.«
»Ausgezeichnet. Jorge und Jon, wie sieht es bei euch aus?«
»Gut«, entgegnete Jon Anderson. »Wir setzen ein bisschen mehr auf den Kern unseres Auftrags, Gewaltverbrechen von internationalem Charakter. Aber unsere Zusammenarbeit ist ja auch gut etabliert und in der Polizeiwelt allgemein anerkannt.«
»Ihr kommt ganz einfach ohneeinander nicht zurecht«, stichelte Gunnar Nyberg.
»Ihr wisst, worum es sich handelt«, sagte Jorge Chavez und streckte sich. »Kreditkartenräuber, die an den Geldautomaten in der Stadt ihr Unwesen treiben. Neu ist, dass sie jetzt ihre Opfer auch kidnappen, während sie deren Konten abräumen. Damit die Karten nicht gesperrt werden können.«
»Das Vorgehen ist total simpel«, fuhr Jon Anderson fort. »Nachts fährt ein Lieferwagen an einem Automaten vor, an dem eine einzelne Person, nach Möglichkeit ein wenig angetrunken, steht und die Tasten bedient. Ein Mann steigt aus und stellt sich hinter sie. Er erkennt die PIN, und dann geht es blitzschnell. Zwei Männer springen aus dem Auto, ziehen dem Opfer einen Sack über den Kopf und zerren es in den Wagen. Der Mann, der hinter ihm gestanden hat, entreißt ihm die Karte und hebt den Höchstbetrag ab. Das alles geschieht binnen einer Minute. Aber für das Opfer im Lieferwagen ist es eine höllische Minute.«
»Dann wirft man die Person kurzerhand auf die Straße und fährt davon«, erklärte Chavez. »Niemand hat Zeit zu reagieren. Inzwischen sind jedoch immer mehr Geldautomaten mit Überwachungskameras versehen, und wie ihr wisst, hat die Zahl der Überwachungskameras in der Stadt erheblich zugenommen. Diese Bande hat sich sozusagen evolutionär der neuen Zeit angepasst, die nach dem 11. September begonnen hat. Sie wissen, dass sie die ganze Zeit gesehen
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