Bußestunde
aufgeregt. Lena fuhr auf den Bürgersteig. Sara blickte zur anderen Seite der Brücke hinüber. Vor nur einem Jahr war genau dort ein U-Bahn-Wagen in die Luft gesprengt worden, kurz bevor er auf die Brücke fuhr. Ein Schauder durchfuhr sie, und sie wandte sich ihrer Kollegin zu.
»Bin ich die Einzige, die komische Schwingungen wahrnimmt?«, fragte Lena.
»Ich war nicht da«, sagte Sara Svenhagen. »Ich muss mich auf deine Schwingungen verlassen. Und das tue ich. Obwohl wir den Fall praktisch gelöst haben. Und das nicht schlecht.«
»Ich weiß«, gab Lena zu.
»Lass mich raten«, schlug Sara vor.
»Okay.«
»Johannes Åkerbloms Pornogucken am helllichten Tage ist an und für sich ein wenig merkwürdig. Naoum Chamouns Filmen und seine Hände-hoch-Haltung ebenso. Genauso wie das Spiel zwischen Suzanne Ehrenkrona und ihrem Bruder. Aber nichts ist wirklich völlig ungewöhnlich. Sagen wir mal, es handelt sich um ganz normale Abweichungen.«
»Aber warum ist Lisa Jakobsson nicht erschienen?«, hakte Lena Lindberg nach.
»Das kann an allem Möglichen liegen«, sagte Sara. »Angefangen bei reiner Faulheit bis zu realer Angst vor der Polizei. Und wir haben den Fall ohne sie gelöst.«
»Sie stand ziemlich lange da am Regal mit den Komödien, und nachher versuchte sie die Fliege zu machen. Und sie behauptete, einen Film ausleihen zu wollen, obwohl sie in einem völlig anderen Stadtteil wohnt – nämlich in dem hier.«
»Dem hier?«
»Ich kam darauf, als wir am St. Eriksplan vorbeifuhren. Sie wohnt in der Gästrikegatan.«
»An der wir gerade vorbeigefahren sind?«
»Sozusagen«, bestätigte Lena Lindberg und vollführte ein äußerst fragwürdiges Wendemanöver. Es dauerte bloß zwei Zehntelsekunden, und danach dachte Sara nur noch an ihr ungeborenes Kind, bis der Wagen vor einer Haustür in der Gästrikegatan unmittelbar am St. Eriksplan anhielt. Kurz nachdem sie elegant in der zweiten Reihe geparkt hatten, betraten die Damen das Treppenhaus.
Sara Svenhagens erste Schwangerschaft war von einem eigenartigen Hunger auf Kartoffelschalen begleitet gewesen. Sie schälte die Kartoffeln, aß die Schale und warf die Kartoffeln weg. Diesmal war nichts Entsprechendes eingetreten. Sie war schon im siebten Monat und hatte nicht die geringsten Gelüste.
Außer möglicherweise unerwartet viele sexuelle …
Sie erreichten eine Tür im dritten Stock, auf deren Briefschlitzklappe der Name Jakobsson stand. Sie klingelten.
Keine Antwort, keine Reaktion. Nichts rührte sich.
Sie warfen einander einen Blick zu.
Das war eine für Polizeibeamte nicht ungewöhnliche Situation. Beinahe alltäglich. Und zugleich ein moralisches Dilemma. Am einfachsten war es, auf die Ermittlung zu pfeifen, die Vorschriften zu befolgen und brav von dannen zu ziehen. Am effektivsten war es, gegen das Gesetz zu verstoßen.
Es ist problemlos denkbar, dass eine schwangere Polizistin etwas andere moralische Normen bekommt – oder eher, dass sie zu denen zurückkehrt, die sie auf der Polizeihochschule gelernt hat. Wenn das so ist, beruht es vermutlich auf dem Umstand, dass sie gerade das Gefühl erlebt, sich in ein Kollektiv einzugliedern, einen größeren Zusammenhang. Indem sie ein Mitglied des sich fortpflanzenden Menschengeschlechts geworden ist, verspürt sie ein stärkeres Bedürfnis, das Richtige zu tun .
»Hast du die Sachen?«, fragte Sara Svenhagen.
»Yes«, sagte Lena Lindberg.
»Do it«, sagte Sara Svenhagen.
Und binnen einer halben Minute waren sie dank der erwähnten Sachen in Lisa Jakobssons Wohnung.
Die Wohnung hatte nichts Auffälliges. Möglicherweise war sie ein wenig streng gestylt, es fehlte eine gewisse normale Wohnlichkeit – aber es war eine Wohnung, in der sowohl Sara als auch Lena gern ihre urbanen Singlejahre verbracht hätten. Die Lage war phantastisch und der japanisch angehauchte Minimalismus der Einrichtung keineswegs abschreckend. Das Einzige, was möglicherweise abschreckend wirkte, war die nahezu bizarre Sauberkeit. Die Wohnung erschien wie geleckt. Weder Sara noch Lena konnte sich erinnern, jemals eine so saubere Singlewohnung gehabt zu haben.
Im Flur lag die tägliche Post. Es war zwei Uhr, und es gab keinen Grund zu der Annahme, dass Lisa Jakobsson zu Hause war. Unter der Post lag die Morgenzeitung.
»Über Nacht nicht zu Hause?« Lena zeigte auf den Boden.
Sara zuckte mit den Schultern. »Wie oft kommt man nicht dazu, die Zeitung zu lesen, und lässt sie da liegen, wo sie hingefallen ist.«
»Stimmt«,
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