Bußestunde
sitzen, und am schlimmsten war es im Polizeipräsidium. Etwas Unbestimmtes machte sie rastlos und trieb sie an die Grenze des Wahnsinns. Sie pendelte zwischen ihren Toten und ihren Sterbenden hin und her, wie sie ein wenig unreflektiert bei sich dachte. Als sie jetzt den völlig kahlen Viggo Norlander auf der Parkbank im Garten des Söder-Krankenhauses betrachtete, machte ihr dieser Gedanke sogleich ein schlechtes Gewissen. Nicht zuletzt deshalb, weil er tatsächlich aussah wie ein Sterbender.
»Gunnar?«, fragte er und strich langsam über sein kleines Amulett in der Tasche seines Morgenrocks.
Sie nickte und sagte: »Ja, er hat eine Niete gezogen.«
»Jaha«, sagte Viggo Norlander und ließ den Blick über Årstaviken gleiten. Das war in der letzten Zeit recht oft der Fall. Er ging zweimal täglich in den Park. Etwas trieb ihn hinaus. Wahrscheinlich die Angst, liegen zu bleiben.
»Neue Metastasen?«, fragte Kerstin Holm.
»Sie behaupten es«, sagte Viggo Norlander. »Es ist wieder eine Operation nötig. Schon in ein paar Tagen.«
»Hast du noch Platz für neue Narben?«
»Schön, wenn die Leute richtig mitfühlend sind.« Viggo lächelte.
»Ich habe das ernst gemeint«, sagte Kerstin. »Sie haben doch ziemlich viel an dir herumgeschnitten.«
»Es gibt immer noch Platz für einen neuen Schnitt.«
Sie schwiegen. Seltsamerweise war es kein peinliches Schweigen. Es gab nichts zwischen ihnen, was peinlich werden konnte.
»Ich verstehe nicht ganz«, sagte Viggo Norlander schließlich, »was für eine Art Serienmörder ihr da habt. Geht es um schwere psychische Störungen?«
»Ich bin mir nicht sicher«, entgegnete Kerstin Holm. »Es geht um starke Gefühle, aber nicht notwendigerweise um Geisteskrankheit.«
»Dann kann es sich ja nur um Rache handeln«, schlug Viggo vor. »Gravierende Traumata in der Kindheit? Sexueller Missbrauch, Unterernährung? Oder das Gegenteil, Fettleibigkeit?«
»Vielleicht. Aber es ist auch so spezifisch. Es scheint sich um ausgedehnte Folter mit viel Blutvergießen zu handeln. Menschen, die wochenlang am Leben gehalten werden.«
»Wie schön, dass du herkommst und den Sterbenden aufmunterst.«
»Du bist kein Sterbender. Das akzeptiere ich nicht.«
»Gut. Dann sind wir ja zu zweit.«
»Aber die letzten Informationen legen den Schluss nahe, dass es zwei Fälle sind. Ein wahnsinniger Serienmörder und ein Prostitutionsring. Und in beiden Fällen geht es um Veränderungen des menschlichen Äußeren. Anorexie und plastische Chirurgie.«
»Wie heißt das?«
»Du weißt schon, was ich meine.«
»Ich weiß wahrscheinlich besser denn je, was du meinst. Vielleicht sogar zum ersten Mal.«
»Das habe ich geahnt.«
»Ihr müsst in der Vergangenheit suchen«, sagte Viggo. »Das sind traumatische Dinge, verlass dich drauf.«
»Aber in wessen Vergangenheit? Wir wissen nicht einmal, ob der Täter ein Mann oder eine Frau ist.«
»Der der Opfer natürlich. Nehmt euch die beiden bestätigten vor, das erste, Åsa Karlsson, und das letzte, Lisa Jakobsson.«
»Das vorläufig letzte«, sagte Kerstin Holm düster.
»Der Mörder ist jetzt gestört worden. Das müsst ihr ausnutzen. Sein Schlachtplatz ist verloren gegangen, er muss neu anfangen. Es wird einige Zeit dauern, bis das nächste Opfer an die Reihe kommt. Jetzt können Leben gerettet werden. Jetzt muss Druck gemacht werden.«
»Du bist ja enorm klug geworden. Man wird nicht klug, nur weil man so tut, als sei man krank.«
»Ich werde mir Mühe geben«, sagte Viggo Norlander todernst.
»Gut«, sagte Kerstin Holm genauso todernst.
Dann schweiften beider Blicke wieder über den Mälarsee. Sie hatten sich nichts mehr zu sagen und blieben schweigend zusammen sitzen. Das hatten sie im vergangenen Jahr häufig getan. Wie oft hatte Kerstin Holm hier gesessen und geglaubt, es sei das letzte Mal, dass sie das Sorgenkind der A-Gruppe sähe. Und kurz danach saß sie wieder da.
Sie hatte die Absicht, das noch sehr oft zu tun. Nur weil man den einen verloren hat, muss nicht auch der andere sterben.
Ihr Handy klingelte. Es war Lena Lindberg.
»Ich würde gern mit Åsa Karlssons Lebensgefährten sprechen«, erklärte sie.
»Da sieh an«, sagte Kerstin Holm.
»Er sitzt in Untersuchungshaft und wartet auf den Prozess. Ich möchte, dass du dein Einverständnis dazu gibst, wenn ich zu Kommissarin Laila Hyllfors von der Polizei Stockholm gehe.«
»Sag nicht, das ist die, auf der alle immer herumgehackt haben.«
»Ich weiß …«
»Mein
Weitere Kostenlose Bücher