Byrne & Balzano 02 - Mefisto
Little Petes Diner in der Siebzehnten Straße, gegenüber vom Radisson Hotel. Ian Whitestone erfreute sich bester Gesundheit, obwohl er überwiegend in Imbissstuben speiste. »Okay«, sagte Ian. »Ludwig van Beethoven.«
Scheiße, dachte Seth. Er hatte wirklich geglaubt, Ian wäre diesmal um eine Antwort verlegen gewesen.
Seth trank seinen Kaffee aus und fragte sich, ob ihm jemals eine Frage einfallen würde, die dieser Mann nicht beantworten konnte. Er schaute aus dem Fenster und sah das erste Blitzlicht auf der anderen Straßenseite, sah die Menge, die sich zum Eingang des Hotels drängte, beobachtete die schmachtenden Fans, die sich um Will Parrish scharten. Dann glitt sein Blick zurück zu Ian Whitestone, der seine Nase wieder in das Drehbuch gesteckt hatte, ohne das Essen auf seinem Teller auch nur angerührt zu haben.
Was für ein Paradox, dachte Seth. Doch es war ein Paradox, das von einer sonderbaren Logik durchtränkt war.
Sicher, Will Parrish war ein Kinostar, dessen Filme ungeheuer viel Geld einbrachten. Ihm war es zu verdanken, dass in den letzten zwei Jahrzehnten weltweit über eine Million Tickets verkauft worden waren. Und er war einer von etwa einem halben Dutzend amerikanischer Schauspieler über fünfunddreißig, der die Zuschauer allein durch seinen Namen in die Kinos lockte. Ian Whitestone hingegen brauchte nur zum Hörer zu greifen, um binnen weniger Minuten einen der Direktoren der fünf größten Filmstudios an die Strippe zu bekommen. Das waren die einzigen Männer auf der Welt, die für einen Film mit Kosten in zweistelliger Millionenhöhe grünes Licht geben konnten. Und Ian hatte diese Nummern alle auf seinem Handy als Direktwahl gespeichert. Das konnte selbst Will Parrish nicht von sich behaupten.
Im Filmgeschäft – zumindest auf kreativer Ebene – hatten Männer wie Ian Whitestone die wahre Macht, nicht Leute wie Parrish. Wenn ihm der Sinn danach stand, und das kam häufiger vor, konnte Ian Whitestone das umwerfend hübsche und doch untalentierte neunzehnjährige Mädchen aus der Menge fischen und ihm seine wildesten Träume erfüllen. Mit einem kurzen Intermezzo in seinem Bett, versteht sich. Ohne einen Finger zu rühren. Ohne Aufsehen zu erregen.
In fast allen Städten außer in Hollywood war es Ian Whitestone und nicht Will Parrish, der unbehelligt und praktisch unbeobachtet in einem Speiselokal sitzen und in Ruhe essen konnte. Niemand würde erfahren, dass die kreative Kraft hinter Dimensions seine Hamburger gerne mit Remouladensauce aß. Niemand würde erfahren, dass der Mann, der sogar einmal als ein zweiter Luis Buñuel bezeichnet wurde, gerne einen Teelöffel Zucker in seine Diät-Cola mischte.
Aber Seth Goldman wusste es.
Er wusste diese Dinge und vieles mehr. Ian Whitestone war ein Mann mit einem unstillbaren Verlangen. Nur einer kannte die kulinarischen Vorlieben des berühmten Regisseurs, und nur einer wusste, dass Ian Whitestone die Stadt als sein eigenes verschlungenes, gefährliches Büffet ansah, wenn die Sonne hinter den Häusern unterging und die Menschen ihre nächtlichen Masken aufsetzten.
Seth schaute über die Straße und erblickte eine auffallend hübsche junge Rothaarige am Rand der Menge. Sie hatte es nicht geschafft, in die Nähe des Filmstars zu gelangen, bevor er in seiner Stretch-Limousine entführt worden war. Sie sah niedergeschlagen aus. Seth schaute sich um. Niemand beobachtete ihn.
Seth stand auf, verließ das Restaurant, atmete tief ein und überquerte die Straße. Als er auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig ankam, dachte er an das, was er und Ian Whitestone im Begriff waren zu tun. Er dachte daran, dass seine Beziehung zu dem für einen Oskar nominierten Regisseur viel enger war als die eines normalen Chefassistenten und dass die Geheimnisse, die sie verbanden, sich durch düstere Orte schlängelten, die keinen Sonnenschein kannten und wo die Schreie der Unschuldigen ungehört verklangen.
30.
Im Finnigan's Wake wurde es voller und lauter. Das mehrstöckige Irish Pub in der Spring Garden Street war ein beliebtes Stammlokal der Polizei, das alle Cops aus sämtlichen Revieren der Stadt gelegentlich aufsuchten. Von den obersten Bossen bis hin zu den jüngsten Streifenbeamten kehrte hier von Zeit zu Zeit jeder ein. Das Essen war okay, das Bier kalt und die Stimmung gut.
Aber man musste seine Drinks im Finnigan's zählen, denn hier konnte man dem Polizeichef persönlich in die Arme laufen.
Über der Theke hing ein Transparent mit der
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