Byrne & Balzano 4: Septagon
inmitten von Schutt und Unkraut, stand eine rot lackierte, mit goldenen Drachen verzierte chinesische Truhe.
Josh Bontrager rannte über den Platz und öffnete den Deckel.
Byrne schaute auf die Uhr. Es war 2.02 Uhr.
Josh Bontrager kam zurück. Ein Blick in sein Gesicht sagte den anderen alles, was sie wissen mussten. Sie waren zu spät gekommen.
Der Killer hatte das nächste Tangram-Teil seines Puzzles gelegt.
77.
2.13 Uhr
Lilly wich noch weiter zurück. Die Schritte hatten sich entfernt; dann war das Geräusch verstummt. Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Zehn Minuten, vielleicht auch mehr. Sie hatte ihren Atem so lange angehalten, wie sie konnte.
Wo war er hingegangen? Hatte er den Raum verlassen? War er jetzt in Claires Zimmer? Hatte sie Claire im Stich gelassen, und geschah jetzt irgendetwas Furchtbares mit dem Mädchen? Lilly konnte die Ungewissheit nicht länger ertragen. Langsam kroch sie unter dem Bett hervor und stand auf. Sie wusste nicht, was sie erwartete, aber sie konnte nicht untätig verharren und darauf warten, dass ihr grausames Schicksal sich erfüllte.
Lilly kam sich vor wie eine Blinde. Sie machte ein paar zögernde Schritte und tastete mit den Händen. Ihre Finger berührten eine glatte, kühle Oberfläche, die sich wie ein Spiegel anfühlte.
In diesem Augenblick flammten die Deckenlampen auf.
Lilly hob den Blick. Sie stand in einem gewaltigen Raum. Die hohe Kassettendecke war vergoldet und mit Spinnweben überzogen. In der Mitte hing ein riesiger bronzener Kronleuchter, doch die Hälfte der Glühbirnen brannte nicht.
»Odette.«
Lilly wirbelte herum und sah ein Schreckgespenst hinter sich stehen. Ein uralter Mann, der neben einem mobilen Sauerstoffgerät stand. Seine Haut war grau und spannte sich über einem skelettartigen Schädel. Er trug einen alten seidenen Bademantel, der mit Essensresten und Urin befleckt war.
In dem schwachen Licht sah Lilly noch die dunkelrote Narbe, die sich um den Hals des Mannes zog, dann verlor sie die Besinnung.
78.
2.20 Uhr
Fünf Detectives standen mit ausdruckslosen Mienen an der Straßenecke. Der sechste Detective, Kevin Byrne, lief wie ein Tiger auf und ab. Nichts konnte ihn trösten. Inzwischen waren ein Rettungswagen und ein Mitarbeiter der Gerichtsmedizin eingetroffen. Um 2.18 Uhr wurde der Tod der jungen Frau offiziell festgestellt. In der roten Lacktruhe war keine Luft gewesen. Vermutlich war das Mädchen jämmerlich erstickt.
Den Detectives blieben etwas mehr als neunzig Minuten, um die nächste junge Frau zu finden.
Jessica nahm den Laptop heraus und klickte die GothOde-Website des Mörders an. Auf der Seite konnten bis jetzt nur die ersten vier Videos angeklickt werden, in denen der Mörder sich und seine Opfer präsentiert hatte. Das fünfte Video, in dem der Killer vor der City Hall gestanden hatte, war gelöscht worden.
»Was Neues?«, fragte Byrne.
»Noch nicht.«
»Wir müssen versuchen, so zu denken wie er«, sagte Josh Bontrager. »Wir müssen ein Gefühl dafür bekommen, was in seinem kranken Hirn vor sich geht. Wir haben noch eine Raute und ein Quadrat.«
Die Mordkommission war eine Ermittlungsabteilung, die mit Vernehmungen, mit Verhören und mit Labor- und Untersuchungsergebnissen arbeitete. Ermittlungserfolge waren messbar, nicht aber die Launen eines Wahnsinnigen.
Jessica öffnete immer wieder die Seite. Schließlich sah sie, dass der Mörder ein neues Video ins Netz gestellt hatte.
»Ein neuer Film«, sagte sie zu den anderen.
Alle drängten sich vor dem Laptop.
F ÜNFTER T EIL :
D AS M ÄDCHEN IN DER Z AUBERTRUHE
Wie in den ersten vier Aufzeichnungen öffnete sich auch zu Beginn dieses Videos der Vorhang.
Diesmal stand die rot lackierte, mit goldenen Drachen verzierte chinesische Truhe in der Mitte der Bühne. Sie stand auf einem Sockel. Kurz darauf kam der Mörder ins Bild. Er trug denselben Frack, denselben Spitzbart, dasselbe Monokel. Die Kamera war genauso weit entfernt wie in den anderen Videos.
»Sehen Sie hier ... die Zaubertruhe«, sagte er und wies zum Ende der Bühne. Eine junge Frau asiatischer Abstammung trat auf die Bühne und stieg auf die Truhe. Sie bückte sich und hob einen mit Seide umspannten Reifen auf, der wie ein Schlauch aussah. Die junge Frau hatte sichtlich Todesangst. Ihre Hände zitterten.
»Und sehen Sie hier ... die reizende Odette«, sagte der Mörder und verließ die Bühne.
Die junge Frau zog den seidenen Schlauch bis an ihr Kinn. Dann hörte man außerhalb des
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