Byzanz
Pflicht.
50
Notaras-Palast, Konstantinopel
Loukas verbrachte jede Minute, die er erübrigen konnte, bei seiner Frau, die sich noch sehr schwach fühlte und auch nur sehr langsam wieder zu Kräften kam, und bei seiner Tochter, um die sich die Amme kümmerte. Auch Thekla teilte ihre Zeit zwischen ihrer Tochter und ihrer Enkelin auf. Selbst Nikephoros hielt sich verdächtig oft in der Zimmerflucht seines Sohnes auf. Wie hatte er doch seine Enkelin genannt, als er sie das erste Mal sah und auf seinen Arm nahm? Meine Kaiserin. Und dann hatte er zu Loukas’ Überraschung hinzugefügt: »Eines Tages wird sie über die Welt herrschen!«
Zum ersten Mal seit jenem schrecklichen Tag, an dem er Demetrios geschlagen hatte, wich die Schuld, die sich wie ein grauer Film über die Augen des Alten gezogen hatte, und er schaute frei, klar und offen. Im Stillen dankte Loukas seiner kleinen Tochter dafür, dass sie, ohne es zu wissen, ihre Umgebung verzauberte und vermenschlichte. Ja, sein Vater hatte recht, Anna war eine Kaiserin, eine Friedenskaiserin.
Mehrmals am Tag erkundigte er sich bei der Amme, ob es seiner Tochter auch an nichts fehle und ob alles in Ordnung sei. Immer wieder betrachtete er das kleine Wunder und bekam doch nie genug von dem Anblick, von dem kleinen Gesicht mit den lustigen runden Augen, dem Näschen, den großen Ohren, dem golden Flaum auf dem Köpfchen, zart wie ein Hauch. Wie hilflos doch der Mensch zur Welt kam, angewiesen auf Fürsorge und Liebe, wie verletzlich und des Schutzes bedürftig! Loukas hatte diese Obhut erfahren, Demetrios ebenfalls, und so sollte es auch Anna ergehen.
Eines Abends bat Nikephoros seinen Sohn in sein Arbeitszimmer. Er wirkte müde und voller Sorgen, die in den Falten seines Gesichts hingen wie Motten in alter Kleidung. Er faltete die Hände, bevor er zu sprechen begann. »Meine Spitzel berichten mir, dass große Unruhe im Kaiserpalast herrscht.«
»Warum?«
»Murad zieht mit einem Heer gegen Konstantinopel.«
Loukas dachte unwillkürlich an seine Frau und an sein Kind. »Anna ist kaum geboren! Und das Erste, was sie auf der Welt hört, wird Kriegslärm sein!« Hass gegen Murad, aber auch gegen Johannes und gegen Alexios regte sich in seinem Herzen. Konnten sie die Waffen nicht ruhen lassen? Begriffen sie denn nicht, dass der Mord nur den Mord, das Töten nur das Töten nach sich zog? Was für ein kindisches, eitles, brutales und gieriges Wesen hatte Gott mit dem Menschen geschaffen? Wie konnte er nur so versagen? Miteinander vermochten sie reich zu werden und Handel zu treiben, weshalb mussten sie dann Not und Leid übereinander bringen? Hatten sie die Gaben, die sie über die Tiere erheben sollten, nur bekommen, um schlimmer als diese zu sein? Loukas rang um Fassung, denn nun kam es einzig und allein auf einen kühlen Kopf an. Er hatte Vorkehrungen zum Schutz seiner Familie zu treffen. »Ich werde unsere Flotte beladen lassen. Sie wird bereitgehalten, jederzeit auszulaufen.«
Der Alte hob die Hand. »Das sieht wie Flucht aus. Lass nur Fracht auf der Nike verstauen und halte auch nur sie auslaufbereit. Das kann unauffällig geschehen.«
»Gut«, lenkte Loukas ein, beschloss aber im Stillen, ein paar Tage später noch ein zweites Schiff vorzubereiten.
»Wir werden nicht abseitsstehen können.« Nikephoros sah seinen Sohn prüfend an. »Konstantinopel ist unsere Heimat«, fügte er mahnend hinzu. Es war ihm nicht entgangen, dass die politischen Erfahrungen, die Loukas gemacht hatte, das Engagement seines Sohnes für die Stadt in Grenzen hielten. Loukas hatte sich von allen öffentlichen Angelegenheiten zurückgezogen und kümmerte sich nur um das Geschäft. Ekel empfand er gegenüber der Politik, in der es nur darum ging, den anderen zu benutzen, um Macht zu gewinnen.
»Ich weiß, Vater.« Er war zwar bereit, für die Stadt zu kämpfen, aber die Heimat würde er notfalls aufgeben, wenn es das Wohlergehen seiner Familie erforderte. Und nicht nur dies wusste Loukas Notaras in diesem Moment, sondern auch, dass er sich nicht aus der Politik zurückziehen durfte, sondern sich einmischen musste, schon um seiner Tochter willen, die doch für den schlimmen Zustand der Welt, in die sie hineingeboren wurde, nichts konnte.
Der Diener hatte den alten hageren Mann im Namen seines Sohnes gebeten, das Kloster zu verlassen, und führte ihn auf der Straße zum Charisius-Tor. Die Sonne brannte unbarmherzig vom Himmel herab. Der Juni erreichte bereits die volle Kraft des Sommers. Der
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