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Byzanz

Byzanz

Titel: Byzanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fleming
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Haar. Vielleicht war es ja schon so weit. Sie wird doch den entscheidenden Moment nicht verpasst haben, nur weil sie am Vorabend vor lauter Aufregung nicht einschlafen konnte, sodass es darüber sogar zu einem Streit mit der geliebten Amme gekommen war. Das Mädchen sprang aus dem Bett, würdigte ihre Puppen, die sie jeden Morgen liebevoll begrüßte, als wäre sie die Mama der großen Familie, keines Blickes und stürmte, nur mit dem weißen Nachthemd bekleidet, aus dem Zimmer. Ihre nackten Füßchen flogen über die kalten Terracottafliesen.
    Es war zwar schon Ende März, aber die einsetzende Frühlingswärme belagerte einstweilen noch das alte Gemäuer, in dem sich die Winterkälte trotzig verbarrikadiert hatte. Aber das interessierte sie jetzt nicht. Niemand im Palast der Notaras verschwendete heute auch nur einen Gedanken an das Wetter, den Handel oder die Politik. Selbst in die Gesichter der Bediensteten hatte sich der Ausdruck einer scheuen Erwartung geschlichen.
    Ihr kleines Herz pochte vor Aufregung, dass es ihr wehtat. Sie durchquerte das Zimmer der Schwester, die tief und fest schlief, ihren Stoffhund im Arm, den sie Dimmi nannte, nach ihrem Onkel Demetrios, der ihr den Hund aus Bursa geschickt hatte. Im Gegensatz zu ihren Puppen bekam das Schwesterchen wenigstens einen halben Blick ab. Dann stand Anna auch schon vor dem elterlichen Schlafzimmer. Sie hatte das Gefühl, dass ihr Herz im nächsten Moment in tausend Splitter zerspringen würde. Nur diese schwarze Tür mit den vielen Schnitzereien und den leuchtenden Intarsien, die Schäfer und Schäferinnen und Lämmer darstellten, trennte sie noch vor dem Einzigartigen, das sie verstummen ließ. Doch ihre Neugier überwand die Furcht. Mit der linken Faust klopfte sie tapfer an. Nachdem sie ein zweites Mal gegen das Holz geschlagen hatte, öffnete sich die Tür, und der Vater stand vor ihr.
    »Anna?«, sagte Loukas so überrascht, als gäbe es nichts Unwahrscheinlicheres auf der Welt, als dass ein zehnjähriges Mädchen vor dem Schlafzimmer ihrer Eltern auftauchte. Dann nahm das spitzbübische Lächeln von seinem Gesicht Besitz, das sie so sehr liebte. Gleich darauf fing er sich, ganz Handelsherr, ganz Kapitän der kaiserlichen Marine, ganz Mitglied des Geheimen Rates des Kaisers der Rhomäer. Mit feierlichem Ernst bot er seiner Tochter die Hand an. »Komm und begrüße dein Brüderchen!«
    Ein wenig enttäuscht darüber, den Augenblick der Geburt verschlafen zu haben, griff Anna beherzt die Hand ihres Vaters, schaute aber nach unten, als sie ihm folgte. Sogleich wurden ihre Sinnesorgane von der eigenartigen Atmosphäre überflutet. Für Anna stellte die Ankunft eines neuen Erdenbürgers ein Wunder dar. Obwohl ihr niemand erzählt hatte, unter wie vielen Mühen und mit wie vielen Gefahren sie selbst zur Welt gekommen war, schien sie es dennoch zu wissen.
    Erst dann nahm sie den Geruch verschiedener Kräuter wie Rosmarin und Salbei, Parfüm und verbranntem Öl wahr. Mitten im Bett thronte ihre Mutter, erschöpft, aber mit dem Glanz der Zufriedenheit in den Augen. »Komm zu mir, Anna, komm und begrüße dein Brüderchen.« Anna tippelte mit äußerster Vorsicht, als könnte jede Unachtsamkeit beim Aufsetzen der Zehen zu einer Erschütterung führen, zu ihr. Das Kind, das Eirene im Arm hielt, schlief und brummelte. Es sah erschöpft aus wie alle Kinder unmittelbar nach der Geburt. Anna fragte sich, ob sie das verrunzelte kleine Wesen, das ihr Bruder war, schön finden sollte. Als er aber das Köpfchen zu ihr neigte und dabei kurz die Augen öffnete, brach der Bann.
    »Wie süß!«, entfuhr es ihr in den höchsten Tönen.
    »Er heißt Nikolaos, nach deinem Großonkel«, verriet ihr der Vater, als wäre es ein heiliges Geheimnis, das er nur ihr anvertraute.
    »Wann ist er denn auf die Welt gekommen?«, fragte sie flüsternd.
    Loukas bückte sich zu seiner Tochter, die ihm bis zur Brust reichte, und feixte, als verrate er ihr die schönste Geschichte der Welt. »Mit der aufgehenden Sonne.«
    »Mit der aufgehenden Sonne«, wiederholte sie ehrfurchtsvoll. »Mit der aufgehenden Sonne …« Annas Augen schienen sich vor Vergnügen zu kugeln. »Oh je, arme Mama, da musst du aber jetzt sehr müde sein. Waren denn Großvater und Großmutter schon da?«
    Eirene nickte. »Auch die Kaiserin Helena.«
    Das Mädchen staunte über die große Geschäftigkeit im Haus, von der es nichts mitbekommen hatte. »Die Kaiserin auch schon?«
    Von allen Geschwistern kannte die

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