Byzanz
endlich der Muezzin seinen Gebetsruf über Edirne ausschickte. Er brauchte nicht lange zu warten, bis der heisere Singsang des Gebetsrufers an sein Ohr drang: »Allahu akbar, Allahu akbar, Ashadu an la ilaha illa ilah, Ashadu an la ilaha illa ilah …«
Murad hatte befohlen, dass der Klang der Glocken anschließend vom Ruf des Muezzins überboten wurde. Er gestattete den Christen und Juden die Ausübung ihrer Religionen, doch als einzig rechtmäßiger Glaube galt der Islam, und mithin hatte dieser auch zu herrschen. Deshalb überragten die schlanken Minarette auch die Kirchtürme der Stadt.
»Hayya ’ala s-salat, Hayya ’ala s-salat, Hayya ’ala l-falah, Hayya ’ala l-falah …«
»Ich komme. Geh schon vor, aber gib es noch keinem bekannt«, beschied er den Eunuchen. Dessen unbewegte Miene ließ nicht erkennen, ob er sich darüber wunderte, seiner Pflicht, dem Hof die Geburt des Prinzen zu verkünden, entbunden worden zu sein. Er verneigte sich und schlich fast lautlos von dannen.
»… as-salatu hayrun mina n-naum, as-salatu hayrun mina n-naum …« Einen Moment lang sah der Sultan dem Eunuchen nach. Murad wusste nicht, woher der Verschnittene stammte, und es interessierte ihn auch nicht. Vielleicht von der Krim? Vielleicht von weiter her. Wer wusste das schon? Verkauften doch die Tataren in Kaffa Menschen, vor allem Kinder und Jugendliche, die sie in den weiten südrussischen Steppen gefangen hatten. Von dort aus wurden sie als lebende Ware nach Konstantinopel verschifft, weiter auf die Sklavenmärkte von Bursa und Edirne, von Venedig und von Genua hinwegtransportiert, um in ganz Europa verkauft zu werden. Eunuchen bildeten den teuersten Posten, weil zwei Drittel der Knaben die Kastration nicht überlebten. Inzwischen wurden auf den Sklavenmärkten schwarze Eunuchen aus Nubien angeboten. Sie waren billiger, weil von ihnen sogar zwei Drittel der Jungen den Eingriff überstanden. Doch Murad überließ seinem Obereunuchen die Auswahl des Nachwuchses der Eunuchengarde. Was sollte er sich da einmischen, der hamdun wusste nur zu gut, dass man ihn zur Verantwortung ziehen würde, wenn einer seiner Untergebenen ein Fehlverhalten an den Tag legte.
»… Allahu akbar, Allahu akbar, La ilaha illa ilah.«
Der Sultan erhob sich schlecht gelaunt und zog einen langen weißen Mantel über Tunika und Pluderhose. Zum Gebet würde er nicht gehen können, weil er eine Frau aufsuchen musste, die ihm unheimlich war und die ihm ein Kind geboren hatte. Er verließ das Schlafzimmer und den dösenden Palast. Die Wachen am Tor der Glückseligkeit grüßten ehrerbietig ihren Herrn. Hatte man die Eunuchen auch ihrer Männlichkeit beraubt, so blieben sie doch dank der täglichen Waffenübungen äußerst wehrhaft.
Nein, Murad freute sich nicht über die Nachricht. Er besaß bereits zwei Söhne von seinen beiden Ehefrauen, einer serbischen und einer karamanischen Prinzessin. Nur ungern dachte er an den Abend vor neun Monaten in seinem Sommerhaus auf dem Tschökke genannten Hügel im Nordwesten seiner Residenz zurück.
In jener lauen Juninacht war der Sultan bester Stimmung gewesen. Er war stolz. Er war eitel. Er fühlte Erleichterung, ja fast so etwas wie Glück, wenn man auf dieser Welt überhaupt wahres Glück empfinden konnte. Bis auf die Eroberung von Konstantinopel glückten seine Unternehmungen. Er hatte sogar eine neue Münze schlagen lassen, was höchstens alle zehn Jahre einmal vorkam.
Den späten Nachmittag hatte er mit dem Lesen persischer Poesie zugebracht und dabei den Chisi-Wein genossen. Murad liebte es, wenn der Traubensaft ihn beruhigte und ihm zur inneren Einkehr verhalf. Als Jüngling hatte er den Wein verabscheut, doch seit er unter dem Druck des Regierens stand, half ihm der Alkohol, die Spannungen abzubauen, die Ängste zu besänftigen und seine Nerven zu beruhigen. Wie hatte doch Hafis gedichtet:
»Zwei kluge Freunde, alten Weines zwei, drei Scheffel,
Beschaulichkeit, ein Buch, ein kleines Wiesenstück:
Ich gebe solchen Platz nicht her für diese und jene Welt,
auch wenn das Volk mir nachläuft jeden Augenblick.«
Am Abend hatten ihn seine Wesire besucht. Sie saßen auf kostbaren Teppichen und lauschten einem Sänger, der Geschichten aus Firdausis »Buch der Könige« vortrug: »Die Menschen des Lichts schauderte es, hinabzusehen in die unwirtliche Tiefe. Unheilvolles fürchtete man dort, und von Geschlecht zu Geschlecht, hinweg über die Jahrtausende, wurden wunderliche Geschichten erzählt über
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