Cagot
Ort.«
»Sie kam Ende der vierziger Jahre hierher, glaube ich.« Sie zog nachdenklich die Stirn in Falten. »Ja. In den vierziger Jahren. Angefreundet haben wir uns dann erst später, als meine Mutter starb und ich das Anwesen nebenan erbte.«
»Dann wissen Sie also nicht, warum Sie aus Frankreich ausgerechnet auf diese kleine Insel gekommen ist?«
»Nein.« Edith Tait schüttelte den Kopf. »Darüber hat sie nie gesprochen, und ich habe sie auch nie danach gefragt. Vielleicht irgendein Familiengeheimnis. Vielleicht gefielen ihr auch nur die Einsamkeit und die Ruhe hier. Manche Leute können dem durchaus etwas abgewinnen … aber jetzt muss ich wirklich gehen. Meine Freundin wartet.«
»Selbstverständlich.«
Das Gespräch war beendet. Simon klappte sein Notizbuch zu.
Als Edith Tait zum Ausgang ging, wurden ihre Schritte plötzlich langsamer, und sie neigte den Kopf auf die Seite. Sie ließ sich die Frage noch einmal durch den Kopf gehen.
»Eine Sache gibt es doch noch. Etwas, was Sie vielleicht wissen sollten. Es war jedenfalls etwas ungewöhnlich.«
Simon klappte sein Notizbuch wieder auf.
»Vor einer Weile … ein junger Mann, ein Wissenschaftler … er hat Kontakt mit ihr aufgenommen und wollte sie für irgendein Forschungsprojekt gewinnen … das Ganze war ihr ziemlich unangenehm.«
»Wie bitte?«
»Er hieß Angus Nairn.« Die alte Frau schloss die Augen - und öffnete sie wieder. »Ja, genau so hieß er. Typischer schottischer Name. Ja. Er war ziemlich hartnäckig und rief sie immer wieder an.«
»Und weswegen? Was wollte dieser Wissenschaftler von ihr?«
»Er wollte sie untersuchen. Er meinte, sie wäre in gewisser Hinsicht einzigartig. Eine Baskin, glaube ich. Kann das stimmen? Ich bin nicht sicher. Baskin vielleicht. Doch.«
»Und das war ihr unangenehm?«
»Ja, sehr sogar. Eine Woche lang war sie völlig aus dem Häuschen. Dieser Nairn hat ihr ganz schön zugesetzt. Aber jetzt muss ich wirklich gehen, meine Freundin wird schon ungeduldig.«
Simon ließ nicht locker. »Nur noch ganz kurz, Misses Tait?«
Sie nickte.
»Sie sagen, dieser Mann wollte sie untersuchen. Wieso? Was wollte er untersuchen?«
Edith Tait antwortete ganz ruhig: »Ihr Blut.«
11
David spähte über die tropfenden Farne hinweg. Es war ein Pferd. Ein kleines Pferd mit zottiger Mähne. »Ein Pottok«, flüsterte Amy.
Das Pony betrachtete sie mit einem Ausdruck abgeklärter Melancholie, bevor es zwischen den Bäumen davontrabte; geheimnisvoll und wild, ein Relikt aus uralten Zeiten. Und dann war es einfach verschwunden.
Davids Muskeln schmerzten von der langen Anspannung und entkrampften sich nur langsam. Er spähte zwischen den Bäumen hindurch. Das rote Auto musste inzwischen schon weit den Berg hinuntergefahren sein. Jedenfalls war kein Motorengeräusch mehr zu hören. Fürs Erste war die Gefahr gebannt. Sie waren noch einmal davongekommen. Er streckte die Hand nach einem Felsen aus, um sich daran hochzustemmen.
Im selben Moment zischte Amy: »Halt.«
Die lähmende Angst kehrte zurück.
»Was ist das?«, flüsterte Amy angespannt.
Sie deutete. Mit zusammengekniffenen Augen spähte David in die angegebene Richtung und fuhr zusammen. Etwa fünfhundert Meter von ihnen entfernt schritt eine schemenhafte Gestalt aufmerksam um sich blickend durch den Nebel. Wegen der schlechten Sicht war sie schwer zu erkennen. Trotzdem hatten sie kaum Zweifel.
»Miguel?«
Amys Frage erübrigte sich. Natürlich war es Miguel. Der schwarze Wolf, der ihnen im Wald nachstellte.
Wieder packte David ihre Hand. »Komm …«
Sie nickte wortlos, und gemeinsam zogen sie sich tiefer in das Dunkel des Waldes zurück. In dem Bemühen, nicht den kleinsten Zweig zu knicken, nicht das winzigste Blatt zu zerdrücken, kletterten sie quälend langsam über nasse, moosbewachsene Baumstämme.
David blickte hinter sich, aber er war nicht sicher, was er eigentlich sah. War das wirklich Miguel - der ihnen immer noch nachstellte? Der Nebel verschob sich im Wind, schwarze Schemen entpuppten sich als Bäume, Bäume, die sich im windgepeitschten Regen wimmernd bogen.
Er drehte sich wieder um und versuchte, sich zu konzentrieren. Irgendeinen Ausweg musste es aus diesem bedrückenden Labyrinth doch geben.
»Da runter…«
David hatte keine Ahnung, wohin er Amy führte - nur fort von Miguel. Eine gute Stunde lang stiegen sie einen steilen Abhang hinab; der Waldboden war nass und tückisch. Amy glitt mehrere Male aus, und auch David verlor auf dem
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