Cagot
wollten sie nach Möglichkeit aus dem Spiel lassen. Jeder war verdächtig, von allem ging eine Bedrohung aus.
Und jetzt fragte sich Simon sogar, ob er Sanderson überhaupt trauen konnte. Schließlich hatte er auch Tomasky für vertrauenswürdig, witzig und integer gehalten und ihn sympathisch gefunden - und doch hatte ihn Tomasky umzubringen versucht. Wer konnte da schon sagen, ob Tomaskys Vorgesetzte vertrauenswürdig waren? Wie tief, wie hoch, wie weit reichte diese ganze Geschichte?
Das ist nicht irgendeine harmlose Routinesache, Quinn, ganz und gar nicht.
Fünf Tage später, Simon saß Trübsal blasend an seinem Schreibtisch, bekam er einen Anruf von einer aufgelösten Polin. Tomaskys Schwester.
Ihr Englisch war grauenhaft, aber was sie Simon zu sagen versuchte, war klar. Sie war untröstlich über das, was ihr Bruder getan hatte; sie wollte sich bei Simon entschuldigen. Sie hatte ihn mit Hilfe des »Scottish-Yard-Polizisten« ausfindig gemacht.
Er hörte sich mit wachsender Verlegenheit an, wie sie ihren tränenreichen, slawisch exaltierten Kummer über ihm ausgoss. Selbst wenn Tomasky Simon umzubringen versucht hatte, änderte das nichts an der Tatsache, dass der Bruder der armen Frau tot war. Was sollte man da sagen? Macht doch nichts, alles nur halb so wild?
Die Frau redete und redete.
»Andrew war gut polnisch Mann, Mister Quinn. Gut Mann, ganz normal! Normal.« Ihre Worte zogen sich in ein angespanntes, tränenersticktes Schweigen zurück. »Er wie smalec und piwo. Er gut. Normal. Wie alle Mensch. Aber dann diese Ort, diese Ort ihn hat geändert.«
»Wie bitte?«
»Ja! Strasne. Das Kloster … Kloster Tourette. In Frankreich.« Ein weiteres unterdrücktes Schluchzen. »Als er dort geht, etwas passiert. Etwas ganz schlimm, ihn hat geändert. Pyrzykro mi. Es tut mir leid. Pyrzykro mi.«
Was danach kam, wurde von Schluchzen erstickt, und sie legte auf.
27
»Bonjour!«
David, der auf den winzigen Balkon seines Hotelzimmers hinausgetreten war, erwiderte den Gruß des leutseligen Franzosen, der mit dem Figaro im Schoß auf dem Balkon nebenan saß, und wandte sich mit einem gezwungenen Lächeln schroff ab. Er wollte nicht reden, er wollte nicht erkannt und wahrgenommen werden. Er wollte nichts als Anonymität.
Deshalb schaute er in die andere Richtung, die Promenade von Biarritz hinunter. Der Blick war herrlich: weite goldgelbe Strände, eingefasst vom gleißenden Filigran der Schaumkronen; die Architektur eine einzigartige Mischung aus viktorianischen Stadthäusern, Betoncasinos und rosafarbenen Stuckpalästen. Die eigenartige, disparate Mixtur passte hervorragend zu seiner Stimmung.
Sie hielten sich jetzt schon mehrere Tage in diesem Hotel versteckt, benutzten nur Münztelefone und schlichen sich gelegentlich in Internetcafes, um Mails zu verschicken und abzurufen. Unter anderem hatte er zwei Mails von Simon Quinn erhalten, in denen ihn der Journalist auf den neuesten Stand gebracht hatte. Das war hilfreich.
Trotzdem hatte es etwas Unwirkliches, hier zu sein. Zusätzlich verstärkt wurde dieses Gefühl durch eine überraschende neue Entwicklung. Er und Amy hatten begonnen, miteinander zu schlafen.
Es war in ihrer zweiten Nacht in Biarritz passiert. Als ihnen in ihren winzigen aneinandergrenzenden Hotelzimmern die Decke auf den Kopf fiel, hatten sie beschlossen, einen Spaziergang zum Rocher de la Vierge zu machen, einem Aussichtspunkt, der auf einem Felsvorsprung lag. Sie hatten auf die Lampen und die Sterne und den Mond über der Bucht geblickt und auf die Austern schlürfenden Touristen an der Porte des Pecheurs - und plötzlich war Amy in Tränen ausgebrochen.
Sie hatte gar nicht mehr zu weinen aufhören können, weshalb David in seiner Hilflosigkeit mit ihr ins Hotel zurückgegangen war und sie auf sein Zimmer gebracht hatte - wo sie sich in sein Bad zurückgezogen hatte, um zu duschen. Eine Weile hatte er nur da gesessen und dem Rauschen des Wassers gelauscht, das laut gegen den Duschvorhang prasselte. Und als er sich schon langsam Sorgen machte und überlegte, ob er nach ihr sehen sollte, kam sie aus dem Bad: in weiße Hotelbadetücher gehüllt, mit gerötetem Gesicht und nassem Haar, am ganzen Körper zitternd. Aus ihren blauen Augen sprach unendlicher Schmerz. Sie blickte an sich hinab. Dann sah sie David an, aufrichtig und niedergeschlagen zugleich.
»Ich fühle mich so schmutzig und unrein, so befleckt«, sagte sie. Sie wollte weitersprechen, verstummte wieder; dann begann sie
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