Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End
Putzer oder andere hatten weniger Glück. Ihre Aufträge waren gewöhnlich innerhalb eines Tages erledigt und so mussten sie ihr Werkzeug zuerst zum Einsatzort und abends wieder nach Hause befördern. Überall in London sah man damals Handwerker angestrengt ihre Karren schieben. Sie mussten auf der Straße gehen, wodurch der Verkehr ins Stocken geriet. Doch die Autofahrer nahmen es hin. Es gehörte einfach zu London dazu.
Einmal fragte ich Len, ob er im Krieg auch eingezogen worden war.
»Nö, wegen dieser Franco-Sache«, sagte er und deutete auf eine Beinverletzung, die ihn für den Militärdienst untauglich gemacht hatte.
»War die Familie denn während des Kriegs in London?«, fragte ich ihn.
»Wär ne Scheißidee gewesen, oder? – Tschuldigung, Schwester«, sagte er. »Die Jerrys * sollten Con und die Kinder nicht erwischen.«
Er war schlau, gut informiert und vor allem unternehmungslustig. 1940 hatte Len die fehlgeschlagenen strategischen Bombardements der Luftstützpunkte und Munitionsdepots mitverfolgt. Er hatte die Schlacht um England miterlebt.
»Un da hab ich mir gedacht, dieser hinterfotzige Sack von Hitler, der hört doch jetz nich auf, oder was? Als Nächstes macht er sich sicher an die Docks. Und als die erste Bombe 1940 auf Millwall fiel, da hab ich gewusst, jetz sin wir dran, un ich sag zu Con: ›Ich bring dich hier raus, mein Mädchen, dich un die Kinder.‹«
Len wartete nicht auf einen Evakuierungsplan. Tatkräftig, wie er war, ergriff er selbst die Initiative und nahm einen Zug am Bahnhof Baker Street, der ihn westwärts aus London heraus bis nach Buckinghamshire brachte. Als er das Gefühl hatte, weit genug gefahren zu sein, stieg er in einer vielversprechenden Gegend aus. Er war bis Amersham gekommen, das heute schon fast ein Londoner Vorort an der Metropolitan Line ist. 1940 war es dort aber noch richtig ländlich und es lag weitab von London. Dann trottete er einfach durch die Straßen, klopfte an die Türen und erzählte den Hausbesitzern, die er antraf, dass er seine Familie aus London herausbringen wolle und ob sie ein Zimmer hätten, das sie ihm vermieten würden.
»Ich hab sicher bei Hunderten von Leuten gefragt. Die ham glaub ich gedacht, ich wär verrückt. Die ham alle Nein gesagt. Manche ham gar nix gesagt un mir die Tür vor der Nase zugehaun. Aber ich hab mich nich unterkriegen lassen. Nich von keinem. Ich hab einfach geglaubt, dass einer schon Ja sagen wird. Du musst nur dranbleiben, Len, alter Junge, hab ich zu mir gesagt.
Es wurd schon spät. Ich war den ganzen Tag rumgestapft un alle ham nur immer die Tür zugeschlagen. Ich sag Ihnen, da war ich fertig. Ich also zurück zum Bahnhof. So richtig deprimiert, sag ich Ihnen. Werd ich nie vergessen. Ich hab nie bei ner Wohnung angeklopft, nur bei Häusern, die so aussahen, als würds drinnen viele Zimmer geben.
Dann war da so ne Frau, ich werd sie nie vergessen, die ging grad in ne Tür neben nem Geschäft rein, un ich sag zu ihr: ›Sie ham nich zufällig ’n Zimmer für mich, Lady? Ich bin ganz verzweifelt.‹ Un ich hab ihr alles erzählt un sie hat Ja gesagt. Die Frau war ’n Engel«, sagte er nachdenklich. »Ohne sie wärn wir wahrscheinlich tot.«
Es war ein Samstag gewesen. Er hatte mit der Dame besprochen, er werde seinen Haushalt sonntags zusammenpacken und montags einziehen. So geschah es.
»Ich hab zu Con un den Kleinen gesagt, dass wir Ferien auf’m Land machen würden.«
Seinem Vermieter hatte er einfach gesagt, sie zögen aus. Sie ließen all ihre Möbel zurück und nahmen nur mit, was sie tragen konnten.
Die Unterkunft, die die Dame ihnen überließ, nannte sich »die hintere Küche«. Es war ein recht großer Raum im Erdgeschoss mit Steinfußboden, der zu einem kleinen Hinterhof hinausführte und Zugang zu den oberen Wohnungen und zu dem Geschäft an der Seite des Hauses bot. Es gab ein Spülbecken, fließend kaltes Wasser, einen Boiler und einen Gasherd. Unter der Treppe lag ein geräumiger Schrank, aber es gab weder Heizung noch Stromanschluss für einen elektrischen Heizkörper. Doch es gab elektrisches Licht und eine Toilette im Freien. Es gab keine Möbel. Ich weiß nicht, was Conchita von all dem hielt, aber sie war noch jung und anpassungsfähig. Und sie war bei ihrem Mann und ihren Kindern, das war alles, was für sie zählte.
Drei Jahre lang lebten sie dort. Len fuhr hin und wieder nach London und brachte, was er an Möbeln und notdürftigen Schlafgelegenheiten auf seinem Karren
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