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Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen

Titel: Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacqueline Kelly
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anders als alles, was ich bis dahin geschmeckt hatte. Wie sollte man danach je wieder Milch trinken? Gierig leerten wir unsere Gläser und rannten sofort ins Zelt zurück, um uns erneut anzustellen. Dieses Mal kauften wir uns jeder gleich zwei Coca-Cola, und damit war unser Erspartes aufgebraucht. Dieses Mal passten wir auf, dass unsere Gläser nicht so schnell leer waren, wir tranken langsamer und sahen zu, wie die Luftbläschen aufstiegen. Beide fühlten wir uns außerordentlich aufgedreht und, würde ich sagen, ausgesprochen erfrischt. Aus Travis’ Mund kam ein Riesenrülpser, und wir kicherten beide los und konnten gar nicht mehr aufhören.
    »Lass dich bloß nicht von Mutter dabei erwischen!«, sagte ich.
    »O nein!« Rülps. »Bestimmt nicht!« Rülpsrülps.
    Gerade liefen Lula und Mrs. Gates an uns vorbei. Lula war so über und über mit Schleifen geschmückt, dass sie wie ein wandelnder Weihnachtsbaum aussah. Travis und sie winkten sich zu, und er rannte hinter ihr her. Mir war es inzwischen egal, dass ich die dritte von drei Klöppelanfängerinnen war. Wen interessierte das schon? Ich überlegte, wo Großpapa wohl gewesen sein mochte, als ich meinen zweifelhaften Ruhm im Spitzenklöppeln begründete. Lamar kam vorbei auf der Suche nach Lula. »Lamar«, fragte ich ihn, »hast du Großpapa gesehen?«
    »Das letzte Mal habe ich ihn drüben im Maschinenzelt gesehen. Ich glaube, er ist den ganzen Tag noch nicht da rausgekommen. Das ist hinter den Viehgehegen. Sag mal, Callie, kannst du mir fünf Cent leihen?«
    »Ich hab selber nichts.«
    Lamar sah mich misstrauisch an. »Und was ist mit deinem Preisgeld?«
    Ich musste lachen. »Preisgeld! Du machst wohl Witze. Diese Schleife hier hab ich bekommen, sonst nichts.«
    »Wozu soll die denn gut sei? Was lachst du denn so? Wieso geben die einem denn kein Geld? Ich brauch welches für den Schießstand. Nie hab ich Geld.«
    »Du hast doch so viel in der Cotton Gin verdient. Was ist denn damit passiert?«
    »Nichts«, sagte Lamar mürrisch.
    »Du hast alles im Laden ausgegeben, stimmt’s? Für Bonbons?« Darauf musste er mir nicht antworten. Ich ließ ihn weiter über seine finanzielle Lage vor sich hinschimpfen und ging in Richtung Maschinenzelt. Natürlich würde ich Großpapa dort finden, das hätte ich mir auch denken können. Vieh und Baumwolle hatten für ihn keine Anziehungskraft mehr. Je näher ich kam, desto stärker wurde der Geruch von Tabak. Wahre Rauchwolken drangen zum Zelteingang heraus, selbst an den Nähten sah man Schwaden. So viele Raucher waren im Zelt, dass man meinen konnte, es stünde in Flammen.
    Hustend bahnte ich mir einen Weg zwischen Männern und Jungen hindurch, die dicht an dicht um die neuesten Pflüge und Dreschmaschinen standen. Doch die größte Gruppe Bewunderer drängte sich ganz hinten im Zelt um irgendetwas. Ich zwängte mich hindurch, flüsterte gelegentlich ein unhörbares »Entschuldigung« in die lärmende Menge, bis ich auf einmal vor Harry stand, der Fern Spitty am Arm führte und versuchte, sie sicher durch das Gewühl zu eskortieren.
    »Harry!«, brüllte ich. »Hast du Großpapa gesehen?«
    »Er ist dort drüben, in der ersten Reihe. Er hat sich den ganzen Tag noch nicht wegbewegt.«
    »Was ist denn da?«
    »Ein Automobil!«
    »Oh!«
    Fern und ich sagten Guten Tag und Auf Wiedersehen, wovon allerdings nichts zu verstehen war, dann winkten wir uns zu, und Harry führte sie weiter. Ich bemerkte, dass sie ihren Arm unter seinem hindurchgeschoben hatte.
    Ich brauchte weitere fünf Minuten, um nach vorn durchzukommen, so randvoll war dieses Zelt, und ich glaubte schon, ich müsste ersticken von all dem Zigarren- und Pfeifenrauch. Immerhin war ich näher am Boden, dort war die Luft wenigstens etwas besser. Vom oberen Teil des Zelts war nichts mehr zu sehen – dort ballten sich dunkle Rauchwolken. Als ich schon dachte, ich würde gleich in Ohnmacht fallen, gelang es mir, mich durch den letzten Ring der Beobachter hindurchzuzwängen – und da war es, in all seiner strahlenden Herrlichkeit, etwas, was ich nie zuvor gesehen hatte: eine Kutsche ohne Pferd.
    Wie soll ich es beschreiben? Es sah aus wie die Verkörperung der Geschwindigkeit, jede Linie seiner äußeren Gestalt schien wie vom Wind geschnitzt. Blitzende Messingausstattung, die elegant gebogenen Schmutzfänger, der schwarze Ledersitz mit Knopfheftung. Und auf diesem Sitz saß er, mein eigener Großvater, und starrte wie hypnotisiert auf das Lenkrad. Ein hochgewachsener

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