Camorrista
zugeklebt. Ich rufe meine Eltern an, doch nach der halben Nummer lege ich auf. Ich will nicht, dass sie mich so hören. Mir genügt es zu wissen, dass sie da sind, mein Vater im Kellergeschoss, meine Mutter am Telefon mit einer ihrer Freundinnen, um sich zu trösten.
Ich rufe an, warte, bis ich die Stimme meiner Mutter höre, lege dann auf.
Jetzt regnet es in Strömen. Der Regen zerreißt den dunklen Himmel und treibt die Passanten aus der Fußgängerzone, bis sich alle verkriechen (für wen habe ich mich verdammt noch mal gehalten?).
Ich suche unter meinen Fehlern den perfekten Sündenbock. Es scheinen mir viele Fehler, alle riesig.
Ich warte, bis der Regen aufhört, und überquere den Platz.
Im Zug nach Hamburg geht mir auf, dass ich einen Fehler gemacht habe, der anders als die anderen ist. Als ich aus dem Zug steige, bin ich davon überzeugt, genau durch diesen Fehler Cocíss finden zu können.
Denn ich muss ihn finden.
Ich will ihn finden.
Die riesige Bahnhofshalle thront über den Gleisen, und ich hänge erneut am Telefon. Ich verbrauche Telefonkarten wie nichts. Kollege Morano kostet mich Zeit, er möchte, dass ich ihm allzu viele Dinge erkläre. Stattdessen erkläre ich ihm nur, er soll zu meinen Vermietern gehen, sich die Schlüssel zu meiner Mansarde geben lassen und die Anrufe kontrollieren, die von meinem Telefon aus geführt worden sind. Ich will keinen Wind machen, also werde ich das Ganze mit einem Anruf vorher ankündigen.
Ich streife durch die Stockwerke, an den Brüstungen entlang, durch die Gänge: überall Sportschuhe, Pizzastücke, Last-Minute-Angebote. Ich suche irgendwas zu essen, aber nur, um nicht umzukippen. Setze mich an ein rundes Tischchen, mit einem Stück Apfelkuchen, einem Fruchtsaft und einer italienischen Zeitung, die ich sofort wieder zuschlage. Vielleicht sollte ich mir lieber im erstbesten Hotel ein Zimmer nehmen und bis morgen früh schlafen.
Ich setze mich wieder telefonisch mit Morano in Verbindung. Er ist noch nicht in meiner Wohnung. Dann ruft er mich zurück und hat für mich die einzige Nachricht, die mich von dieser bleiernen Schwere, die auf mir lastet, befreien kann.
Die Nachricht von meinem ersten Fehler.
Da ist eine Nummer im Speicher meines Festnetzanschlusses, die ich mit Sicherheit niemals angerufen habe. Eine Nummer mit einer Auslandsvorwahl, auf Anhieb würde ich sagen: Großbritannien. Datum und Uhrzeit passen: Es ist der Abend, an dem ich Cocíss mit nach Hause genommen habe.
Ich habe ihn vierzig Minuten allein gelassen, er hatte kein Handy, und am nächsten Tag wusste er schon, wohin wir aufbrechen mussten. Ich lasse sie mir zweimal sagen, die Nummer.
Ich verabschiede mich von Morano, bevor er mich zum zehnten Mal fragt, was zum Teufel ich treibe.
»Wir sehen uns bald«, sage ich kurz angebunden.
Nach anderthalb Stunden im Internetcafé verlasse ich die Halle und mache eine große Runde um den Bahnhof, weil ich auf der falschen Seite rausgegangen bin, doch schließlich sehe ich sie: Von Weitem lese ich die Buchstaben ZOB auf einem großen Glasschild. Die Busstation. Nach einem Wahnsinnslauf springe ich in letzter Sekunde in den Flughafenbus.
Den Blicken der anderen Fahrgäste entnehme ich, dass ich ziemlich fertig aussehen muss. Ich lasse mich auf den Sitz fallen. Wieder Steine im Kopf. Und kaltes Wasser in den Venen.
Gegen fünf Uhr nachmittags bin ich am Hamburger Flughafen: Zusammengekauert auf zwei kleinen Sitzen, unter meinem Kopf als Kissen meine Reisetasche, hoffe ich, dass die deutschen Kollegen mich in meinem Zustand nicht für eine Pennerin halten.
Der Flug nach Heathrow geht um 20.15. Gate 39, Boarding um 19.35. Ich würde alles dafür geben, in diesen zwei Stunden zu schlafen.
Stattdessen schlage ich meinen Notizblock auf. Im Internet Point habe ich zwei Stunden damit verbracht, Namen von Personen zu übertragen, die ich nicht kenne, Adressen von Orten, von denen ich nicht einmal wusste, dass sie existieren, Telefonnummern und Firmennamen, von denen ich wirklich nicht verstehe, was sie mit einem wie Cocíss zu tun haben.
Ideal für eine wie mich, die sich Filme vorstellt.
Ich weiß jetzt, dass Alderney die kleinste der Kanalinseln ist.
Während ich darauf wartete, dass irgendjemand den Hörer abnahm, stellte ich mir vor, wie das Telefon in einem reizenden Cottage auf einem Hügel am Meer läutete. In Wirklichkeit werde ich nie erfahren, ob das stimmt, denn die Nummer, die Cocíss vor einer Woche gewählt hat,
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