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Camorrista

Titel: Camorrista Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giampaolo Simi
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und die Gemeinde weist ihnen eine Sozialunterkunft im Viertel 167 zu. Damit gehören sie noch zu den Glücklicheren, denn andere enden in irgendwelchen Kellerlöchern. Doch ohne den Laden kann Mariella Mastronero nicht Schneiderin werden, denn niemand kommt ins Viertel 167, um sich ein Kleid nach Maß fertigen zu lassen.
    Miguel Angel will sie von dort fortbringen, vielleicht auf die Balearen, um dort ein Restaurant zu eröffnen, doch ihrem Vater geht es schlecht, er will weiter seine Arbeit tun, auch gratis, nur um sich wieder einen Kundenkreis aufzubauen.
Er ist sich nicht zu schade, auch zu flicken, zu ändern, zu stopfen, doch fast niemand bezahlt ihn. Die Leute haben kein Geld. Nach einem Jahr muss man ihn immer im Auge behalten, weil er fast jeden Tag damit droht, sich umzubringen. Mariella kann ihn nicht allein lassen, der Block ist so weit weg von allem. Nicht mal ein Bus fährt dorthin, es gibt weder Supermarkt noch Apotheke. Miguel Angel Ferrera ist ein halbes Jahr lang auf einem Kreuzfahrtschiff in der Karibik unterwegs, Mariella geht tausendmal die breite Straße hinunter, die ein Stück weit Corso Due Sicilie heißt und sich dann namenlos unter den Pfeilern des Zubringers verliert. Und eines schönen Tages bleibt sie stehen und denkt, sie schafft es nicht mehr. Sie stellt die Einkaufstüten ab, schiebt die Ärmel ihres Pullovers hoch und reißt das Tütchen mit der Spritze auf.
    »Vielleicht hat sie schon Heroin genommen, als sie schwanger wurde«, hat Ferrera mir erzählt. »Sie hat es mir eines Abends am Telefon gesagt, und ich habe ihr gleich geantwortet, dass man was machen müsste, aber es war spät, sie war quasi im fünften Monat, es war gefährlich für sie. Wir sind so auseinandergegangen. Doch im Jahr darauf bin ich nach Italien zurückgekehrt und habe sie besucht. Ich hätte sie fast nicht wiedererkannt. Erschreckend sah sie aus, wie ein Schatten, ein Gespenst. Das ist das einzige Mal, dass ich meinen Sohn gesehen habe, er war acht Monate alt. Dann bin ich nach Liverpool übergesiedelt, um dort zu arbeiten, und habe mein erstes Restaurant eröffnet. Ein paar Jahre lang habe ich ihr zu Weihnachten Geld geschickt. Heute weiß ich nicht einmal, ob sie noch lebt.«
    »Sie lebt noch. Sie wird in einer sozialtherapeutischen Einrichtung betreut«, habe ich ihn wissen lassen.
    »Lieber Gott, das scheint fast ein Wunder«, hat er schließlich mit einem Anflug von Überdruss gesagt.
    »Und jetzt sagen Sie mir, wo Ihr Sohn ist, los.«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Sie haben keinen Grund, mich anzulügen, oder?«
    »Nein, den habe ich wirklich nicht. Ich weiß es nicht.«
Wir sind vom Telefon unterbrochen worden. Ein paar Mal hat er es klingeln lassen, dann hat er sich gemeldet und zehn Minuten lang über eine Lieferung dieses berühmten Haddock diskutiert. Das ist ein Fisch, so ähnlich wie Kabeljau, glaube ich. Er mag Haddock falsch schreiben, doch er spricht es richtig aus und zeigt, dass er sich mit diesem Fisch gut auskennt, denn er besteht auf bestimmte Mengen und sagt seinem Gesprächspartner immer wieder, wie groß er sein muss. Er sieht raus aufs Meer und wiederholt geduldig jede seiner Bitten, ohne je in einen anderen Ton zu verfallen. Dann öffnet er die Tür, tritt auf den Gang hinaus und gibt irgendjemandem die Anweisung, ihn in den nächsten zehn Minuten nicht zu stören. Als er zurückkommt, sucht er sich einen Weg zwischen Schachteln, Stuhl und Schreibtisch.
    »Ich habe an dem Tag aufgehört, ihm Geld zu schicken, als ich seiner Mutter angeboten habe, ihn hierherkommen zu lassen. Da war Daniele noch klein. Ich habe gedacht, ich ziehe ihn in England auf, weit weg von diesem schrecklichen Ort, um ihm Bildung, eine Arbeit, eine Zukunft zu bieten. Hier bei mir. Aber seine Mutter hat nicht gewollt.«
    »Warum wollten Sie nur Daniele herkommen lassen?«
    »Um sie hätte ich mich nicht kümmern können, dafür hatte ich noch nicht genug Geld und Zeit. Und ich wusste, dass sie niemals in der Lage gewesen wäre, von sich aus mit den Drogen Schluss zu machen. Sie hätte nur mein Leben zerstört. Nennen Sie mich meinetwegen feige oder gefühllos, wenn Sie wollen. Das ist mir egal.«
    »Mir ist es auch egal. Ich glaube nur nicht, dass eine Mutter es akzeptieren kann, sich von ihrem Kind zu trennen.«
    »Sie hat sich bestimmt nie von ihm getrennt. Nicht mal, wenn sie zehn Freier in einer Nacht hatte, um das Heroin bezahlen zu können …«, sagt er eiskalt.
    Ich stehe ebenfalls auf. Er begreift sofort

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