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Camorrista

Titel: Camorrista Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giampaolo Simi
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auf und legt mir eine Hand auf die Schulter. Durch die geschlossene Tür des Zimmers der Blondine dringt in einer grauenhaften Lautstärke Robbie Williams. D’Intrò kräuselt kaum die Lippen. »Jetzt müssen wir los. Das Wichtigste besprechen wir unterwegs.«
     
    Achtundvierzig Jahre, ein Meter dreiundsiebzig groß, normale Figur, keine besonderen Kennzeichen. Das letzte Bild, ein schlechtes Passfoto, zeigt ihn im Alter von fünfundzwanzig.
Er hat langes Haar, blond gefärbt, Mund und Kinn verschwinden hinter einem dichten Bart. Zwanzig Jahre und ein paar banale Eingriffe könnten ihn vollkommen unkenntlich gemacht haben. Vielleicht hat er sich die Augenbrauen höher setzen, das Kinn verlängern, die Wangenknochen verändern lassen. Die Computer der Antimafiabehörde DIA haben Hunderte von möglichen Bearbeitungen dieses Bildes erzeugt, doch niemand kann wissen, ob er dick oder schlank geworden ist, die Haare verliert oder an Depressionen leidet.
    Ansonsten nur Hypothesen und Legenden. Wie die, dass er eine bewaffnete Expedition in der Hochebene von Afghanistan finanziert, organisiert und befehligt haben soll, um nach dem Fall der Taliban den Weg für das Heroin wieder zu öffnen. Andere dagegen behaupten, er habe sich nie aus Baia Nerva fortbewegt, wo man sich von einer uneinsehbaren, fürstlichen Residenz auf einem Felsenriff erzählt, unzugänglich und mit einem natürlichen Schwimmbecken in einer Grotte. Die mit der meisten Fantasie berichten von einer großen Yacht, die immerzu auf dem Mittelmeer kreuzt, doch stets in internationalen Gewässern, und an den Küsten von Libyen, Malta oder dem Libanon anlegt.
    Alles Unsinn, findet D’Intrò. Teilweise von Incantalupo selbst in Umlauf gebracht, und zwar nicht nur, um die Fahndungskräfte auf falsche Spuren zu locken.
    »Ein virtueller Boss«, erklärt D’Intrò, »der physisch nicht greifbar ist, muss ständig eine Leere füllen. Er verzichtet auf ein Gesicht, aber er kann nicht auf Präsenz verzichten. Und sei sie imaginär. Er muss den Persönlichkeitskult nähren. Und die eigene Megalomanie.«
    Apropos Größenwahn: Ziemlich ernst zu nehmen scheint D’Intrò dagegen die Behauptung, der große Boss beschäftige sich leidenschaftlich mit einigen historischen Persönlichkeiten. So ernst, dass er seit einem Jahr zwei seiner Männer dafür abgestellt hat, die wichtigsten Auktionshäuser der Welt zu überwachen.
    Ich höre ohne großes Interesse zu. Jeder Verbrecher eines
bestimmten Kalibers denkt sich schließlich in einen großen Führer hinein. Sie lesen Biografien, sammeln Gemälde, doch Julius Cäsar interessiert sie einen Scheiß, sie wollen nur sich selbst wiederfinden, sich in einem Spiegel betrachten, der ihnen ein klein wenig Größe geben kann, etwas Stabiles und Transzendentes. Sie beschäftigen sich einen großen Teil ihres Lebens damit, den Gestank ihrer Macht zu parfümieren.
    »Napoleon«, probiere ich.
    »Typisch.«
    »Nein, banal. Dann Alexander der Große und Dschingis Khan?«
    »Falsch. Eines Tages sind wir einem seiner treuen Statthalter in Buchhandlungen gefolgt. Costante Dinuccio heißt er, ein Monster. Ich bin mir sicher, dass er in seinem Leben nichts gelesen hat, nicht mal das Schild an einem Aufzug. Der Typ ist abgehauen, musste aber die Tasche mit den Büchern zurücklassen. Es waren alles historische Schriften. Sechs über Napoleon, zwei über Karl den Großen und gut zehn Bände, erinnere ich mich, über Winston Churchill.«
    »Ein tolles Trio«, erlaube ich mir zu bemerken.
     
    Mir kommt der Gedanke, dass D’Intrò mit dieser langen Rede insgeheim darauf abzielt, das Niveau seines großen Feindes und damit auch sein eigenes zu heben. Doch dieses Spielchen fasziniert mich nicht wirklich. Legenden sind nicht nützlich.
    Das Reich des Eises ist unermesslich groß, das weiß ich wohl. Schon wenn man nur die Spitze dieses Eisbergs in der Ferne sichtet, hat man ein mulmiges Gefühl.
    Ich bin winzig, doch sehr klein ist auch der Schatz, den ich entwenden soll. Darüber würde ich lieber reden, und zum Glück versteht D’Intrò das.
    Ein Haar. Ein Zigarettenstummel. Ein Einwegrasierer, ein benutztes Glas, ein Nagel, ein Pflaster. Das Gesicht kann man verändern, die DNA nicht. Während wir einen Parkplatz am Flughafen suchen, lasse ich einen Film vor mir ablaufen mit
all den Möglichkeiten, wie ich von dem Mann, den Cocíss mir zeigen wird, eine solche Probe bekommen kann. D’Intrò sagt klipp und klar: Ich persönlich muss die Probe

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