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Camorrista

Titel: Camorrista Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giampaolo Simi
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ein neues Leben zu beginnen nicht (vielleicht) heißt, die Perspektive zu wechseln, weil sonst alles keinen Sinn hat. Aber ich bin still, um mich nicht lächerlich zu fühlen. Ich akzeptiere das Verhandeln, außerdem war ich darauf vorbereitet.
    »Wir können D’Intrò bitten, ein bisschen was draufzulegen.«
    »Und wie viel so?«
    »Dreißigtausend. Mehr nicht.«
    »Dreißigtausend! In einem Monat hab ich die gemacht.«
    »Du kannst also doch rechnen.«
    Er zuckt mit den Schultern, fasst sich an die Nasenspitze. Dann atmet er, als wäre er plötzlich im Hochgebirge.
    »Jedenfalls verdienst du die in viel weniger als einem Monat.«
    Er sieht mich verblüfft an.
    »Was meinst du, was wir vielleicht brauchen, um rauszukriegen, wo er ist? Vielleicht ist er im Ausland, in Amerika. Ich muss Anrufe machen, wenn ich überhaupt ein Telefon kriege.«
    »Du bekommst eins.«
    »Und dann rufe ich also an, und dann müssen wir vielleicht warten.«
    »Dann warten wir.«
    »Und wo warten wir?«
    (Ich habe keine Ahnung, aber ich darf mich nicht unsicher zeigen.)
    »Weit weg von hier. Vielleicht im Ausland.«
    Scheint so, als würde ihm diese Aussicht nicht missfallen. Er rutscht auf dem Sitz tiefer, presst die Knie gegen das Armaturenbrett, beschaut sich durchs Fenster die blaue Landschaft der Morgendämmerung. Seine Füße bewegen sich
ruckartig, erinnern mich an die Flipperfinger in einem alten Spielautomaten.
    »Hör mal, ich hab in dem Bau heute Nacht kein bisschen geschlafen.«
    »Wieso nicht?«
    Er versucht mir zu antworten, fängt aber gleich an zu husten, als hätte er Knallfrösche in der Lunge. Er spuckt Schleim, hält sich mit zwei Fingern die Nasenlöcher zu, schnäuzt sich schließlich.
    »Ich hab Geräusche gehört. Manchmal hab ich gedacht, du wärst es. Oder dass da andere Leute wären. Heute Morgen waren da draußen Zigeuner, die haben die Fernseher aufgeladen.«
    Nach seiner blassen Gesichtsfarbe zu urteilen glaube ich nicht, dass er mich anlügt. Aber ich weiß genau, worauf er hinauswill.
    »Ich bleibe da nicht länger, kein Scheiß, okay? Der Generator läuft nicht mehr, das Wasser ist braun, es ist zum Kotzen. Sieh dir an, wie runtergekommen ich bin. Nicht mal im Gefängnis geht es einem so.«
    Ich lasse mich auf die Diskussion ein und sage ihm, dass er nur noch bis morgen durchhalten muss.
    »In dem Bau leben nicht mal Mäuse.«
    Zehn Minuten später mache ich ihm den Kofferraum auf, und er wirft seine Sporttasche zwischen meine Strandtücher und ein paar alte zusammengerollte Gummimatten.
     
    Ich drossle das Tempo, als ich den Kreisverkehr erreiche, von dem aus man in den unteren Ortsteil gelangt, wo die Postämter, die Schulen, die Autohäuser und die anderen Möbelfabriken liegen, die, die noch im Geschäft sind.
    Ich sehe die Wohnzimmer und die Küchen. Sie sind nachts immer schön erleuchtet.
    Vielleicht machen sie das, weil dort, wo es ungelebtes Leben gibt, früher oder später Gespenster auftauchen.

    Der Ausweis auf den Namen Giovanni Russo ist nicht in der Sporttasche. Er hat ihn verloren, vielleicht ist er in Spaccavento geblieben, vielleicht auf dem Polizeirevier. Ein paar Minuten lang bin ich davon überzeugt, dass ich Leda, eine Zimmervermieterin, die eng mit meiner Mutter befreundet ist, bitten könnte, mir nicht allzu viele Fragen zu stellen, für eine Nacht. Aber sie weiß, dass ich bei der Polizei arbeite, sie könnte mit meiner Mutter darüber reden, und die Vorstellung gefällt mir nicht. Ich denke an die Zimmer auf dem Biobauernhof von Maurizios Freunden. Aber wie stelle ich ihn vor? Als meinen Bruder? Nein, sie wissen, dass ich nur einen älteren Bruder habe. Als einen Cousin aus dem Süden, der hier Urlaub macht? Sie werden denken, dass ich es mit einem Jüngelchen treibe, und Maurizio wird es erfahren.
    (Sinnlos, mir zu viele Filme vorzustellen, ich habe hier keine Wahl.)
    »Geiles Auto«, sagt Cocíss, als er den Geländewagen meines Nachbarn sieht, der uns schneidet und in den kleinen Garten fährt.
    »Wir sind da«, sage ich.
    Er streckt die Beine aus und macht ein genervtes Gesicht.
    »Und wo?«
    »Bei mir zu Hause. Steig aus, los.«
    Er nickt, als wollte er sagen, er findet es okay, er hat nichts dagegen. Ich hingegen denke, dass nach heute Nacht die kleine Mansarde nicht mehr mein Zuhause sein wird. Endgültig. Der Fuß im Nacken, die Hände auf dem Rücken, der Schatten auf der Terrasse. Nach der Nacht mit dem Blackout wäre die Wohnung sowieso nie mehr mein Zuhause gewesen.

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