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Camus, Albert

Camus, Albert

Titel: Camus, Albert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Mensch in der Revolte
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Werdens zieht, um ihn ins Licht der Schöpfung zu stellen. Im Grenzfall, wenn die Ablehnung vollständig ist, wird die Wirklichkeit voll und ganz ausgetrieben, und wir erhalten rein formale Werke. Entscheidet sich der Künstler hingegen, aus Gründen, die der Kunst meist fernliegen, die rohe Wirklichkeit zu verherrlichen, stehen wir vor dem Realismus. Im ersteren Fall ist die ursprüngliche Bewegung der Schöpfung, diese Mischung von Revolte und Zustimmung, Bejahung und Verneinung, verstümmelt zugunsten der einzigen Ablehnung. Das ist dieFlucht ins Formale, wofür unsere Zeit so viele Beispiele geliefert hat und deren nihilistischer Ursprung sichtbar ist. Im zweiten Fall strebt der Künstler danach, der Welt die Einheit zu geben, indem er ihr jede bevorzugte Perspektive nimmt. In diesem Sinn gesteht er sein Bedürfnis nach Einheit, sei sie auch erniedrigt. Aber er verzichtet auch auf die erste Forderung der künstlerischen Schöpfung. Um die relative Freiheit des schöpferischen Bewusstseins besser leugnen zu können, behauptet er die unmittelbare Ganzheit der Welt. Der schöpferische Akt verleugnet sich selbst in diesen beiden Arten von Werken. Ursprünglich lehnte er nur einen Aspekt der Wirklichkeit ab, während er gleichzeitig einen andern bejahte. Ob er nun die ganze Wirklichkeit verwirft oder nur sie hochhält, er leugnet sie in jedem Fall in der absoluten Verneinung oder der absoluten Bejahung. Wie man sieht, trifft sich diese Analyse auf der ästhetischen Ebene mit derjenigen, die wir auf geschichtlicher Ebene skizziert haben.
    Doch wie es keinen Nihilismus gibt, der am Schluss nicht einen Wert voraussetzte, und keinen Materialismus, der, sich selbst durchdenkend, nicht zu seinem Widerspruch käme, sind formale und realistische Kunst absurde Begriffe. Keine Kunst kann das Wirkliche vollständig ablehnen. Die Gorgo ist zweifellos eine rein imaginäre Schöpfung, aber ihr Haupt und die Schlangen, die es krönen, stammen aus der Natur. Der Formalismus kann sich mehr und mehr des Gehalts an Wirklichkeit entleeren, aber eine Grenze ist ihm immer gesteckt. Selbst die reine Geometrie, in der die abstrakte Malerei manchmal endet, entnimmt der Außenwelt die Farben und die perspektivischen Beziehungen. Der wahre Formalismus ist Schweigen. Ebenso kann der Realismus nicht auf ein Minimum von Deutung und Willkür verzichten. Die beste Fotografie verrät schon die Wirklichkeit, sie entsteht durch eine Auswahl und setzt dem eine Grenze, das keine hat. Derrealistische und der formalistische Künstler suchen die Einheit, wo sie nicht ist, in der Wirklichkeit im Rohzustand oder in der Phantasieschöpfung, die jede Wirklichkeit auszutreiben glaubt. Die Einheit in der Kunst erwächst im Gegenteil aus der Umformung, die der Künstler dem Wirklichen auferlegt. Sie kann weder auf das eine noch auf das andere verzichten. Diese Korrektur 107 , die der Künstler durch die Sprache und durch eine Neuverteilung der Wirklichkeitselemente vornimmt, nennt man Stil; sie gibt der neugeschaffenen Welt ihre Einheit und ihre Grenzen. Sie strebt bei jedem Rebellen, und erreicht es bei einzelnen Genies, ihr Gesetz der Welt aufzudrücken. «Die Dichter», sagt Shelley, «sind die unerkannten Gesetzgeber der Welt.»
    Aufgrund seines Ursprungs kann die Kunst des Romans nicht verfehlen, ein Beispiel für diese Berufung zu geben. Sie kann weder ganz dem Wirklichen zustimmen noch sich von ihm ganz trennen. Ein reines Phantasieprodukt gibt es nicht, und selbst wenn es eins gäbe in einem idealen Roman, der völlig entkörperlicht wäre, hätte es keine künstlerische Bedeutung, denn die erste Forderung des Geistes auf der Suche nach Einheit ist die mitteilbare Einheit. Die Einheit der reinen Überlegung ist andererseits eine falsche Einheit, da sie sich ja nicht auf die Wirklichkeit stützt. Der Kitschroman (oder der schwarze Roman) wie der Erbauungsroman entfernen sich von der Kunst insoweit, als sie diesem Gesetz nicht gehorchen. Die wahre Romanschöpfung hingegen benutzt die Wirklichkeit und benutzt nur sie, mit ihrer Wärme und ihrem Blut, ihren Leidenschaften und Schreien. Sie fügt bloß etwas hinzu, das sie verwandelt.
    Gleicherweise will der realistische Roman die Wiedergabe des Wirklichen mit allem, was es an Unmittelbarem enthält. Die Elemente der Wirklichkeit ohne jede Auswahl wiedergeben hieße, wenn dies Unternehmen denkbar wäre, die Schöpfung unfruchtbar wiederholen. Der Realismus sollte nur das Ausdrucksmittel des religiösen Genies

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