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Camus, Albert

Camus, Albert

Titel: Camus, Albert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Mensch in der Revolte
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sein, was die spanische Kunst wunderbar ahnen lässt, oder, am anderen Extrem, die Kunst der Affen, die sich mit dem Bestehenden begnügen und es nachahmen. In Wirklichkeit ist die Kunst nie realistisch; sie ist manchmal versucht, es zu sein. Wenn sie wirklich realistisch sein will, ist eine Darstellung zur Endlosigkeit verurteilt. Wo Stendhal mit einem Satz den Eintritt Lucien Leuwens in einen Salon beschreibt, müsste der realistische Künstler, ginge es mit Logik zu, mehrere Bände aufwenden zur Beschreibung der Personen und des Dekors, ohne dass es ihm gelänge, die Einzelheiten zu erschöpfen. Der Realismus ist eine grenzenlose Aufzählung. Er zeigt damit, dass sein Ehrgeiz die Eroberung nicht der Einheit, sondern der Totalität der wirklichen Welt ist. Man versteht deshalb, dass er die offizielle Ästhetik einer Revolution der Totalität ist. Doch diese Ästhetik hat bereits ihre Unmöglichkeit bewiesen. Die realistischen Romane treffen gegen ihren Willen aus dem Wirklichen eine Auswahl, denn Auswahl und Übersteigung der Wirklichkeit sind die Hauptbedingungen des Denkens und des Ausdrucks. 108 Schreiben heißt auswählen. Es gibt also eine Willkür des Wirklichen, wie es eine solche des Idealen gibt; sie macht aus dem realistischen Roman einen versteckten Thesenroman. Die Einheit der Romanwelt auf die Ganzheit des Wirklichen zurückzuführen,ist nur möglich mit Hilfe eines Urteils
a priori,
das aus dem Wirklichen entfernt, was nicht ins System passt. Der sogenannte sozialistische Realismus ist also gerade durch die Logik seines Nihilismus dazu ausersehen, die Vorzüge des Erbauungsromans und der Propagandaliteratur zu vereinigen.
    Ob die Ereignisse den Schöpfer zum Sklaven machen oder ob er sie allesamt zu leugnen strebt, in beiden Fällen sinkt die Schöpfung zu den erniedrigten Formen der nihilistischen Kunst. Es geht mit der Schöpfung wie mit der Kultur: Sie setzt eine ununterbrochene Spannung zwischen Form und Materie, zwischen dem Werden und dem Geist, der Geschichte und den Werten voraus. Ist das Gleichgewicht gestört, entsteht Diktatur oder Anarchie, Propaganda oder formales Rasen. In beiden Fällen ist eine Schöpfung, die ihrerseits eins ist mit vernunftgelenkter Freiheit; unmöglich. Sei es, dass sie dem Rausch der Abstraktion und der formalen Dunkelheit nachgibt, sei es, dass sie nach der Peitsche des rohesten und naivsten Realismus ruft, die moderne Kunst ist fast völlig eine Kunst der Tyrannen und Sklaven, nicht der Schöpfer.
    Das Werk, in dem der Inhalt die Form sprengt, oder die Form den Inhalt überwuchert, spricht in jedem Fall von einer enttäuschten und enttäuschenden Einheit. Hier wie anderswo ist jede Einheit, die keine solche des Stils ist, eine Verstümmelung. Welche Perspektive ein Künstler auch wähle, ein Prinzip bleibt allen Schöpfern gemeinsam: die Stilisierung, die die Wirklichkeit voraussetzt, und der Geist, der ihr seine Form gibt. Durch sie macht das schöpferische Bemühen die Welt neu, immer mit einer leichten Abwandlung, die das Kennzeichen der Kunst und des Protests ist. Durch die mikroskopische Vergrößerung, durch die Proust die menschlichen Erfahrungen sieht, oder durch die absurde Dünnheitder Gestalten im amerikanischen Roman wird die Wirklichkeit in gewissem Sinn vergewaltigt. Die Schöpfung, die Fruchtbarkeit der Revolte liegen in dieser Abwandlung, die den Stil und den Ton des Werks ausmacht. Die Kunst ist eine in Form gebrachte Forderung nach Unmöglichem. Wenn der aufwühlendste Schrei seinen stärksten Ausdruck findet, tut die Revolte ihrer wahren Forderung Genüge und zieht aus dieser Treue zu sich selbst eine Schöpferkraft. Obwohl diese Feststellung die Vorurteile unserer Zeit verletzt, ist der größte Stil in der Kunst der Ausdruck der höchsten Revolte. Wie der wahre Klassizismus nur eine gebändigte Romantik ist, ist das Genie eine Revolte, die ihr eigenes Maß geschaffen hat. Deshalb gibt es, im Gegensatz zu dem, was man heute lehrt, kein Genie in der Verneinung und der reinen Verzweiflung.
    Das heißt gleichzeitig, dass der hohe Stil nicht bloß ein formales Vermögen ist. Er ist es, wenn er um seiner selbst willen gesucht wird, auf Kosten der Wirklichkeit; aber dann ist er nicht der hohe Stil. Er erfindet nicht mehr, sondern ahmt wie jeder Akademismus nach, während die wahre Schöpfung auf ihre Weise revolutionär ist. Wenn man die Stilisierung auch weit treiben muss, da sie den Eingriff des Menschen und den Willen zur Korrektur zusammenfasst,

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