Camus, Albert
Rebellen, die sterben oder den Tod verbreiten wollen. Aber das sind die Gleichen, verzehrt von der Begierde nach dem wahren Leben, betrogen um das Sein, und die deshalb die allgemeine Ungerechtigkeit einer verstümmelten Gerechtigkeit vorziehen. Auf dieser Stufe der Entrüstung wird die Vernunft zur Raserei. Wenn es wahr ist, dass die instinktive Revolte des menschlichen Herzens im Lauf der Jahrhunderte auf ihr größtes Bewusstsein zugeht, hat sie auch, wie wir gesehen haben, an blinder Kühnheit zugenommen bis zu jenem maßlosen Augenblick, an dem sie beschloss, auf den universalen Mord mit dem metaphysischen Mord zu antworten.
Das ‹Wenn auch›, das, wie wir erkannt haben, den entscheidenden Augenblick der metaphysischen Revolte angibt, erfüllt sich jedenfalls in der absoluten Zerstörung. Weder die Revolte noch ihr Adel strahlen heute über die Welt, sondern der Nihilismus. Seine Konsequenzen haben wir aufzuzeichnen, ohne die Wahrheit seines Ursprungs aus den Augen zu verlieren. Selbst wenn Gott lebte, ergäbe sich Iwan ihm nicht angesichts der den Menschen angetanen Ungerechtigkeit. Aber ein längeres Wiederkäuen dieser Ungerechtigkeit, einebittere Flamme hat das ‹Selbst wenn du lebst› umgewandelt in ‹Du verdienst nicht, zu leben› und darauf in ‹Du lebst nicht›. Die Opfer fanden die Kraft und die Gründe des letzten Verbrechens in der Unschuld, die sie sich zuerkannten. An ihrer Unsterblichkeit verzweifelnd, ihrer Verdammung gewiss, beschlossen sie die Ermordung Gottes. Wenn es falsch ist zu behaupten, an jenem Tag habe die Tragödie des zeitgenössischen Menschen begonnen, so ist es auch nicht wahr, dass sie damals ihre Vollendung gefunden hat. Dieses Attentat bezeichnet vielmehr den Gipfel eines Dramas, das am Ende der antiken Welt begonnen hat und dessen letzte Worte noch nicht verhallt sind. Von dem Augenblick an beschließt der Mensch, sich von der Gnade auszuschließen und von eigenen Mitteln zu leben. Von Sade bis zum heutigen Tag bestand der Fortschritt darin, den geschlossenen Bezirk immer mehr zu erweitern, in dem nach seinem eigenen Gesetz der Mensch ohne Gott grausam herrschte. Man schob die Grenzen des verschanzten Lagers gegenüber Gott immer mehr vor, bis man aus der ganzen Welt eine Festung gegen den abgesetzten und verbannten Gott gemacht hat. Am Ende seiner Revolte schloss sich der Mensch ein, seine große Freiheit bestand einzig darin, von Sades tragischem Schloss bis zu den Konzentrationslagern das Gefängnis seiner Verbrechen zu erbauen. Aber der Belagerungszustand verallgemeinert sich nach und nach, die Forderung nach Freiheit will für alle gelten. Man muss also das einzige Königreich errichten, das sich dem der Gnade entgegenstellt, dasjenige der Gerechtigkeit, und die menschliche Gemeinschaft vereinigen auf den Trümmern der göttlichen Gemeinschaft. Gott und eine Kirche bauen, ist die ständige und widersprüchliche Bewegung der Revolte. Die absolute Freiheit wird schließlich ein Gefängnis aus absoluten Pflichten, eine kollektive Askese, eine Geschichte also. Das 19. Jahrhundert, dasjenige der Revolte, mündet so ins 20. ein,das Jahrhundert der Gerechtigkeit und der Moral, wo jeder sich an die Brust schlägt. Chamfort, der Moralist der Revolte, hatte schon das Wort dafür geprägt: «Man muss gerecht sein, bevor man großmütig ist, so wie man zuerst Hemden hat und nachher Spitzen.» Man verzichtet also auf die Luxusmoral zugunsten der strengen Ethik der Aufbauenden.
Diese krampfhafte, auf das Weltreich und das Universalgesetz gerichtete Bemühung müssen wir jetzt untersuchen. Wir sind an dem Punkt angelangt, wo die Revolte, jede Knechtschaft von sich weisend, die ganze Schöpfung annektieren will. Bei jedem ihrer Misserfolge sahen wir schon die Ankündigung einer politischen Lösung. Von ihren Eroberungen wird sie fortan nur den moralischen Nihilismus und den Willen zur Macht zurückbehalten. Der Rebell wollte im Grunde nur sich selbst gewinnen und sich gegenüber Gott behaupten. Aber er verliert die Erinnerung an seinen Ursprung, und nach dem Gesetz eines geistigen Imperialismus ist er auf dem Weg zur Weltherrschaft über Mordtaten ohne Zahl. Er hat Gott aus dem Himmel vertrieben, aber da der Geist der metaphysischen Revolte sich mit der revolutionären Bewegung vereinigt, wird die irrationale Forderung nach Freiheit sich als Waffe paradoxerweise die Vernunft erwählen, die einzige Eroberungsmacht, die ihr rein menschlich scheint. Wo Gott tot ist, bleiben die
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