Canard Saigon (German Edition)
wollte, war nicht aufrechtzuerhalten. Bei den Lichtverhältnissen und von oben betrachtet war es unmöglich, eine Person eindeutig zu identifizieren. Sie hatten mehrere Varianten durchgespielt, aber nicht einmal als die Person nach oben blickte, war es möglich, ein Gesicht zu erkennen. Die neuerliche Befragung der Hausbewohner hatte keine weiteren Erkenntnisse gebracht.
Marc beendete das Gespräch. Die Wahrscheinlichkeit, dass Ahmet Düzel der gesuchte Täter ist, verringert sich dramatisch, dachte er. Er spürte, dass der Fall schwieriger zu lösen sein würde, als er anfangs erhofft hatte. Er entschied, doch nach Hause zu fahren. Während der 50-minütigen Fahrzeit rief er sich nochmals die Geschehnisse des Tages ins Gedächtnis.
Wien, Samstag, 17. April 2010, 9.00 Uhr
Marc Vanhagen saß allein im Pausenraum und schlürfte missmutig seinen Kaffee. Sein gewohntes morgendliches Ritual war heute durcheinandergeraten. Freddy musste ihn jeden Morgen aufwecken, denn er selbst ignorierte jegliche Art von Wecker. Wenn er schlief, dann tief und fest. Also scheuchte der Wecker zuerst Freddy aus dem Bett, die dann in mehreren Anläufen versuchte, Marc zu wecken. Das hatte sie zwar heute genauso gemacht, aber ohne den üblichen Nachdruck. Heute war Samstag, die Kinder mussten nicht zur Schule, und Freddy schlief an solchen Tagen gerne länger. Der Wecker läutete in zehnminütigen Intervallen, Freddy wurde kurz wach, stieß Marc an, schlief aber gleich wieder ein. So kam es, dass Marc erst nach der fünften Aufforderung aus dem Bett sprang. Er war zu spät dran und hatte nicht einmal Zeit, eine Tasse Kaffee zu trinken. Und ohne Kaffee war er ungenießbar. Er hatte das Gefühl, nicht klar denken zu können.
Jetzt saß Marc endlich bei seinem Kaffee, rauchte seine zweite Zigarette und fühlte, wie seine Lebensgeister langsam erwachten. Gestern, kurz vor Mitternacht, hatte ihn noch Nicole Sandmann angerufen. Zwei der diensthabenden Polizisten hatten Maricela Rodriguez erkannt und angegeben, dass die hübsche Frau öfter an der Polizeiinspektion vorbeigegangen war. Fahrzeug war ihnen keines aufgefallen. Der Chef der Gruppe hatte versprochen, die Befragungsaktion am Samstagvormittag durchzuführen. Von Frau Meisner hatte Nicole keinen Anruf erhalten.
Marc rief sich die Einzelheiten des Falles ins Gedächtnis. Seine Laune besserte sich. Er stand auf und ging zur Kaffeemaschine. Mit einer frischen Tasse Kaffee in der Hand verließ er den Pausenraum und ging in den War Room. Als er Emma Szinovek sah, fiel ihm die kleine Auseinandersetzung vom Vortag wieder ein. Marc ärgerte sich, dass er vergessen hatte, Blumen zu besorgen. Er entschuldigte sich trotzdem. Emma schaute zwar noch immer beleidigt, nahm aber seine Entschuldigung an.
Marc setzte sich an seinen Schreibtisch und fuhr den Computer hoch. Während er seine E-Mails checkte, legte ihm Christine Pinter die ausgeschnittenen Artikel der Tageszeitungen auf den Tisch. Marc überflog die Berichte. Von Kurzmeldungen bis hin zu längeren Reportagen mit teilweise wilden Spekulationen war alles dabei. Für die Titelseite hatte der Mord an Maricela Rodriguez allerdings nicht gereicht. Heute werden die ersten Hinweise aus der Bevölkerung eingehen, dachte Marc bei der Betrachtung der Zeitungsausschnitte. Und wie immer werden sich die Spinner zuerst melden.
Er sah kurz auf die Website der National Football League, um die News zu erfahren. Danach öffnete er die Homepage der Dallas Cowboys, fand aber keine nennenswerten Neuigkeiten. Er trank seinen Kaffee aus und stand auf. Jetzt fühlte er sich fit. Er ging in den Konferenzraum und notierte die Erkenntnisse des gestrigen Abends auf der Pinnwand. Dann trat er einige Schritte zurück und setzte sich auf einen Stuhl, von dem aus er alle Informationen gut überblicken konnte. Marc versuchte, neue Zusammenhänge zu erkennen und zu überprüfen, ob er bisher etwas übersehen hatte.
„Marc, Telefon“, riss ihn die Stimme von Christine aus seinen Gedanken. Er drehte sich um und runzelte die Stirn.
„Wer will mich sprechen?“, fragte er Christine, die an der Tür stehen geblieben war.
„Anwaltskanzlei Dr. Buchenstock“, antwortete sie mit ehrfürchtig gesenkter Lautstärke.
„Leg das Gespräch auf meinen Schreibtisch“, sagte Marc. Er stand auf und ging in den War Room. Nach dem Klingelton nahm er das Gespräch entgegen. Am anderen Ende der Leitung meldete sich Staranwalt Alfons Buchenstock höchstpersönlich. Nach einer
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