Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Candy

Candy

Titel: Candy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Brooks
Vom Netzwerk:
sie und blinzelte aus ihren verschwommenen Augen auf mich herab. »Was ist das denn   …?«
    »Ich bin’s   … Joe«, sagte ich und setzte mich auf. »Brauchst du Hilfe?«
    »Ich brauch Stoff«, sagte sie ausdruckslos.
    Ihr Gesicht war ausgelaugt. Es war nichts mehr darin zu finden – kein Erkennen, kein Bewusstsein, kein Ich. Ihr Blick war kalt und leer. Sie starrte einmal kurz durch mich hindurch, dann wischte sie sich die Nase mit dem Handrücken ab und stolperte weiter ins Bad.
     
    Während der nächsten paar Stunden wechselte sie wie ein Jojo ständig zwischen Liegen und Aufstehen. Sie muss mindestens ein halbes Dutzend Mal ins Bad gegangen sein, bevor es ihr endlich gelang, in einen ruhelosen Schlaf zu fallen. Es fing schon an zu dämmern, und als sich das graue Morgenlicht über den gähnenden Himmel ausbreitete, wusste ich, dass es für mich mit Schlafen vorbei war.
    Ich schlüpfte aus dem Schlafzimmer und machte Kaffee, dann ging ich hinaus auf die Veranda und beobachtete den Sonnenaufgang über dem Wald.
     
    Sonntagmorgen, neun Uhr: Ich war im Schlafzimmer, saß auf der Bettkante und Candy weinte.
    |324| »Es tut so weh, Joe«, schluchzte sie. »Mir ist so kalt   … alles tut weh. Ich schaff das nicht   … ich brauch was   … bitte   …«
    Ich gab ihr ein paar Aspirintabletten. Sie warf sie in den Mund, nahm einen Schluck Wasser, dann fing sie auf einmal an zu würgen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Sie krümmte sich vor Schmerzen, hielt sich den Magen, keuchte und prustete, aus Augen und Nase lief Flüssigkeit   …
    Ich konnte nichts anderes tun, als dazusitzen und zuzuschauen.
    »O Gott«, weinte sie, »ogottogottogott   …«
     
    So ging das eine ganze Zeit – würgen, heulen, zittern, schluchzen – und ich tat alles, um sie zu beruhigen. Ich gab ihr mehr Decken. Ich stellte eine Schüssel ans Bett, damit sie nicht ins Bad musste, um sich zu übergeben. Ich versorgte sie mit Taschentüchern und Wasser   …
    Ich pflegte sie, könnte man sagen.
    Ich bin nicht sicher, ob es ihr sehr viel half, aber wenigstens hatte ich eine Beschäftigung, was viel besser war, als rumzusitzen und sich zu Tode zu ängstigen.
     
    Mittag: Ich spürte inzwischen den fehlenden Schlaf. Meine Brust war zugeschnürt, meine Augen verklebten und ich vergaß lauter alberne Kleinigkeiten. Ich füllte den Wasserkessel und vergaß ihn anzustellen   … oder ich öffnete den Schrank und hatte vergessen, was ich holen wollte. Ich trank ständig Kaffee, um mich wach zu halten, aber das Einzige, was passierte, war, dass mein Kopf ratterte.
     
    Ein Uhr: Ich machte Tee und Toast fertig und trug beides ins |325| Schlafzimmer. Candy saß aufrecht im Bett und rauchte eine Zigarette. Ihr Gesicht war fast weiß und ihre Augen wirkten unnatürlich groß.
    »Wie fühlst du dich?«, fragte ich sie.
    »Super«, sagte sie. »Meine Haut glüht, mein Kopf dröhnt, mein Bauch tut weh   … ich kann nicht still liegen   … ich kann mich nicht bewegen   …« Sie zog an ihrer Zigarette und starrte mich an. »Ich fühl mich super.«
    »Willst du ein bisschen Toast?«
    »Nein   … ich will, dass es mir besser geht.«
    »Wie wär’s mit Schokolade?«
    Sie antwortete nicht, starrte mich nur an. Ich stellte den Tee und den Toast auf den Nachttisch, dann sah ich mich nach dem Krempel um, den sie an der Tankstelle gekauft hatte. Ich fand die Tragetasche auf dem Fußboden, nahm sie hoch und stellte sie aufs Bett. Candy sagte nichts. Ihr Blick war jetzt hart, sie starrte mich mit der Bosheit eines gemeinen Kindes an. Ich wusste damit überhaupt nicht umzugehen. Ich
konnte
damit nicht umgehen.
    »Ich geh mal nach draußen, ein bisschen frische Luft tanken«, erklärte ich ihr. »Ich bin nur vorm Haus, wenn du mich also brauchst, ruf einfach – okay?«
    Sie sagte noch immer nichts, aber als ich mich umdrehte und das Schlafzimmer verließ, spürte ich, wie sich ihre Augen in meinen Rücken brannten.
     
    Draußen hatte sich der Wind gelegt und der Tag war sonnig und kalt. Ich ging hinüber zum Rand der Lichtung und setzte mich neben eine kahle alte Eiche auf den Boden. Vor Jahren war der Baum vom Blitz getroffen worden. Sein Stamm war vernarbt und |326| schwarz, seine Wurzeln ragten aus dem herabgefallenen Laub wie die halb vergrabenen Glieder eines Riesen. Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen. Die Luft war schwer vom Duft des Waldes. Als ich so dasaß und tief durchatmete, konnte ich fast den Geruch der verrottenden

Weitere Kostenlose Bücher