Candy
Glück gehabt, echt. Das weißt du doch, oder? Du hast Glück gehabt. Es hätte viel schlimmer ausgehen können …
Als ich nach oben ging, wartete Gina in meinem Zimmer auf mich.
»Wie ist es gelaufen?«, fragte sie besorgt.
Sie saß auf dem Fußboden, blätterte in einer Musikzeitschrift und es schien, als ob sie schon eine Weile da wäre. Ein wirrer Kreis von Büchern, CDs und leeren Kaffeebechern hatte sich um sie herum gebildet.
»Ich hoffe, du räumst das alles wieder auf«, sagte ich und nickte |129| in Richtung Chaos auf dem Boden.
Sie grinste mich spöttisch an und kehrte zum Thema zurück. »Komm schon – was hatte Dad zu sagen?«
»Eine ganze Menge.«
Sie schüttelte den Kopf. »Tut mir Leid, Joe – ich musste es ihm erzählen. Er hat sich echt Sorgen um dich gemacht. Wenn ich ihm nichts gesagt hätte, hätte er die Polizei gerufen.«
»Schon gut«, sagte ich und setzte mich auf das Bett. »Ist ja nicht deine Schuld.«
»Er hätte es sowieso rausgefunden.«
»Ja, ich weiß – mach dir keine Gedanken. Ich hätte dich gar nicht mit reinziehen sollen.« Ich sah sie an. »Was hat er dazu gesagt, dass du für mich die Schule angerufen hast? Ist er ausgeflippt?«
»Nicht wirklich. Ich glaube, er war viel zu angefressen von dir, als dass er sich um mich Gedanken gemacht hat.« Sie schaute auf. »Hast du Hausarrest gekriegt?«
»Yep.«
»Wie lange?«
»Bis er zurückkommt von seiner Reise. Wohin fährt er eigentlich? Ins Cottage?«
»Nein, ist was Geschäftliches, in Edinburgh – die Jahreskonferenz des Verbands.« Sie lächelte. »Lauter Gynäkologen.« Das Lächeln verschwand. »Er fährt mit Mum, sie bleiben die ganze Woche.«
Ich nickte abwesend und dachte an das Haus … Woodland Cottage. Ich hatte lange nicht mehr dran gedacht. Es ist ein kleines Ferienhaus, das Dad vor Jahren gekauft hat, ein rustikaler Holzbungalow, in der Nähe eines Dorfes an der Küste von Suffolk. Als |130| Mum noch da war, sind wir ziemlich oft hingefahren. Es ist wirklich schön dort – mitten in der Pampa, still und friedlich, Wälder und Felder ringsum, eine kleine Flussmündung in der Nähe …
»Joe?«, sagte Gina.
»Entschuldigung – was ist?«
»Hast du die Sache geklärt?«
»Welche Sache?«
»Wegen der du nach London gefahren bist, was weiß ich – die superwichtige Sache für euren Auftritt. Erinnerst du dich?«
»Ach so … Ja, natürlich, war kein Problem. Das ist alles … äh …«
»Geklärt?«
»Ja.« Ich lachte. »Alles steht.«
»Du ziehst es trotzdem durch?«
»Ja – wieso nicht?«
»Ich dachte, du hättest Hausarrest.«
»Hab Freigang an dem Tag.«
»Ist ja super. Ich bin schon echt gespannt drauf.«
Ich sah sie an und war für einen Moment sprachlos. Ich hatte vergessen, dass sie kommen wollte.
»Was ist?«, fragte sie und runzelte die Stirn wegen meines verwirrten Blicks, doch dann kapierte sie, was der Grund war. »Ach komm, Joe … du hast mich doch eingeladen. Bring Mike mit, hast du gesagt.«
»Ja, ja … ich weiß …«
»Willst du nicht, dass wir kommen?«
»Natürlich will ich … ich hatte es nur kurz vergessen, das ist alles.« Ich beugte mich hinab und strubbelte ihr durchs Haar. »Tut mir Leid.«
|131| »Ja, schon gut …«
»Jetzt sei nicht beleidigt.«
»Bin ich ja gar nicht.«
Ich lächelte sie an.
Sie lächelte zurück.
Und wir waren wieder gut miteinander. Wir redeten noch eine Weile, ohne irgendwas Wichtiges zu sagen, nur um die Zeit totzuschlagen. Schließlich stand Gina auf, gab mir einen Gutenachtkuss und ließ mich mit meinen Gedanken allein.
Es war eine Menge, womit sie mich allein ließ – Dad, Lügen, Candy, Lügen, Gina, Lügen … so viele Lügen, dass es schwer war, die Wahrheit im Auge zu behalten.
Ich fing an, den Krempel wegzuräumen, den Gina auf dem Fußboden stehen gelassen hatte.
Eins nach dem andern
, sagte ich mir immer wieder.
Mach eins nach dem andern. Es hat keinen Zweck, dir Gedanken über Freitag zu machen, solange du gar nicht sicher weißt, ob Dad dich überhaupt gehen lässt. Falls er dich nicht gehen lässt, ist es egal, was passiert, wenn Candy auftaucht und Gina und Mike da sind … Du brauchst dir nicht den Kopf zu zerbrechen, wie du die Dinge erklären willst, denn du wirst gar nicht da sein und Gina und Mike auch nicht, also wird es nichts zu erklären geben.
Stimmt’s?
Die Sache war aber die: Ich wusste im Innern, dass ich dort sein
würde
. Es war kein
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