Candy
hereinkam. Er stellte sie an der Tür ab, setzte sich an den Frühstückstisch und schenkte sich Kaffee ein. Ich sah das Gepäck an, dann ihn. Er hatte sich für die Reise zurechtgemacht – Anzug, Mantel, Aftershave, Krawatte, versonnenes Gesicht und gedankenverlorener Blick.
»Wohin fährst du?«, fragte ich ihn.
»Hmm?«
»Wo du hinfährst?«
Er sah vom Tisch auf. »Du weißt, wo ich hinfahre, Joe – ich habe es dir erzählt. Edinburgh.« Er runzelte die Stirn über mich. »Die Konferenz.«
|182| »Ich dachte, du würdest morgen fahren.«
»Sie
beginnt
morgen – deshalb fahre ich heute.« Er seufzte. »Das habe ich dir alles erklärt. Ich habe es bestimmt dreimal gesagt. Ich wusste, dass du mir nicht zuhörst – du hast dich die ganze Woche so merkwürdig verhalten. Was ist mit dir los?«
»Nichts … ich
hab
zugehört. Ich hab nur die Daten durcheinander gebracht, das ist alles.« Ich schaute auf die Uhr. »Fährst du mit dem Auto?«, fragte ich ihn.
Er nickte.
»Du und Mum?«
»Ich treffe sie dort oben.«
»Um wie viel Uhr?«
»Heute Abend.«
»Wann musst du dann los?«
Er runzelte wieder die Stirn über mich. »Warum auf einmal das ganze Interesse?«
»Nur so … ich hab bloß gefragt.«
Seine Augen wurden schmaler. »Hör zu, du hast dich die Woche über wirklich gut geschlagen. Du hast nicht gefragt, ob du weggehen darfst, und – soweit ich weiß – auch nicht versucht, dich heimlich wegzustehlen. Aber du hast immer noch Hausarrest, vergiss das nicht, und du hast erst die Hälfte der Zeit geschafft. Also verdirb nicht alles, indem du meine Abwesenheit ausnutzt. Du enttäuschst dich nur selbst, wenn du das tust – das weißt du doch, oder?«
»Ja«, sagte ich.
»Du kannst vielleicht mich anlügen, aber nicht dein eigenes Gewissen.«
Wollen wir wetten?
, dachte ich.
|183| »Schon gut, Dad«, sagte ich. »Du kannst mir vertrauen.«
Er betrachtete mich noch eine Weile, dann schaute er auf seine Armbanduhr, trank eilig den Kaffee aus und stand vom Tisch auf. »Gut dann«, sagte er und nahm seine Sachen. »Ich mache mich besser auf. Sag Gina, ich rufe sie Mitte der Woche an, und vergiss nicht, am Mittwoch die Mülleimer rauszustellen. Es ist genug zu essen im Kühlschrank. Ich habe etwas Geld in der Schublade gelassen. Wenn du mich wegen irgendwas brauchst, hast du meine Handynummer, und die Nummer vom Hotel habe ich ins Notizbuch auf dem Tisch im Flur geschrieben.« Er fing an, seine Taschen nach den Autoschlüsseln abzutasten. Ich nahm sie vom Tisch und reichte sie ihm. »Ach ja«, sagte er. »Also, ich gehe davon aus, dass ich am nächsten Samstag zurück bin.«
»Gute Zeit«, sagte ich.
Er blieb einen Moment stehen, sah mich noch einmal lange an, dann klimperte er mit den Schlüsseln und ging.
Eine halbe Stunde später stand ich in Heystone am Bahnsteig und wartete auf den Zug nach London.
|184| 11. Kapitel
I ch wusste nicht, was ich tat. Ich hatte nicht geplant, nach London zu fahren, um Candy zu suchen. Ich hatte nicht die ganze Woche darauf gewartet, dass Dad endlich abreiste. Ich hatte nicht mal darüber nachgedacht – Pläne ausgeheckt, Vorbereitungen getroffen, den rechten Moment abgewartet. Zumindest nicht wissentlich. Ich vermute aber, die Idee muss schon die ganze Zeit da gewesen und in meinem Kopf rumgeschwirrt sein – sie wartete nur darauf, dass ich sie irgendwann aufgreife … Oder womöglich
wusste
ich ja auch, dass sie da war, hatte aber Angst, sie anzuerkennen, weil sie vielleicht das Einzige war, was ich besaß. Und wenn dann etwas schiefging und sie mir wegnahm …
Ich weiß es nicht.
Und ich wusste es damals nicht. Meine Handlungen schienen weit weg und unverbunden mit mir, als hätte mein Körper seinen eigenen Kopf. Widersprüche ergaben einen Sinn: Die Welt war unscharf, ich war scharf; ich war schnell, die Welt war langsam …
Es war ziemlich unheimlich.
Aber auch völlig normal.
Sobald Dad das Haus verließ, schnappte ich mir das Telefon und rief in der Schule an. Meine Stimme blieb ruhig, als ich erklärte, |185| dass ich nicht kommen würde, dass ich mich nicht wohl fühlte, es aber nichts Ernstes sei, und dass … Nein, tut mir Leid, mein Vater kann nicht ans Telefon kommen, er ist auf Geschäftsreise. Auf Wiederhören.
Ich nahm meine Jacke.
Verließ das Haus.
Stieg in den Zug.
Fuhr nach London.
Stieg aus dem Zug.
Stieg in die U-Bahn .
Fuhr nach King’s Cross.
Stieg aus der U-Bahn .
Ging dorthin zurück, wo
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