Caras Schatten
Lungenflügel fühlten sich an, als würden sie brutal zusammengepresst. »Nein«, stieß sie hervor und hob abwehrend die Arme, bevor sie sich rückwärts zur Treppe flüchtete.
Mom stand auf und folgte ihr. »Nein ist keine Option, Cara. Genauso hast du dich damals benommen, als wir hierhergezogen sind. Du brauchst Hilfe.« Mom kam auf sie zu, und Cara floh rückwärts die Treppe hinauf, mit der Hand am Geländer. Ihre schlimmsten Ängste drohten sie zu überwältigen. Mom würde in ihr Zimmer gehen. Sie würde Zoe entdecken und sie von hier fortbringen. Es wäre alles Caras Schuld. Und weil sie Zoe bei sich versteckt hatte, würde man sie ebenfalls fortbringen. Sie würde Ethan nie wiedersehen. Cara stolperte am Treppenabsatz und klammerte sich ans Geländer. »Mom, warte!« Sie startete einen weiteren Versuch. »Es ist alles halb so schlimm.«
»Schluss jetzt!« Mom kreischte beinah. Sie kam unaufhaltsam näher und trieb Cara die Treppe hinauf. Sie waren fast oben angekommen. »Du verdrängst die Tatsachen, Cara. Sieh dir das nur an! Dieses Chaos! Du brauchst Hilfe …« Sie stieß Caras Zimmertür auf und erstarrte. Ihre Worte rissen so abrupt ab, als hätte ihr jemand eine Hand auf den Mund gelegt.
Cara spähte durch die Tür. Der Fußboden war vollkommen frei von Klamotten – zum ersten Mal, seit Zoe hier aufgekreuzt war. Zoe selbst war nirgends zu sehen. Sie musste die Auseinandersetzung gehört und sich rasch versteckt haben. Die Schranktür, die leicht offen stand, hing wieder in ihren Angeln. Sämtliche Kleidungsstücke waren wie in einer Boutique fein säuberlich in Reih und Glied aufgehängt. Die Kleiderbügel zeigten alle in dieselbe Richtung, und die Kleidungsstücke waren der Art, Länge und Farbe nach sortiert. Am Boden des Kleiderschranks standen Caras Schuhe wie die Zinnsoldaten aufgereiht. Die dreckigen Teller und Gläser waren allesamt verschwunden. Cara mochte sich nicht vorstellen, wie Zoe während ihrer Abwesenheit hinunter in die Küche geschlichen war, doch anscheinend war sie das. Das Bett war ebenfalls gemacht. Und der Raum roch nach nichts anderem als nach frischer Luft, die durch das offene Fenster hereinwehte.
Mom wandte sich von der Tür ab. Sie sah aus, als hätte man ihr einen Schlag ins Gesicht verpasst.
»Ich hab doch gesagt, ich räum alles auf«, erwiderte Cara. Ihr fiel nichts Besseres ein. Sie schluckte und wartete ab. Mom starrte sie an. Cara spürte, wie ihr Gleichgewichtssinn zurückkehrte. Sie zwang sich, einen Schritt auf ihre Mutter zuzugehen. »Ehrlich, Mom, du machst die Sache schlimmer, als sie ist.« Sie klopfte ihrer Mutter beruhigend auf die Schulter.
Mom zuckte zusammen, als hätte man ihr eine Spinne auf den Arm gesetzt. Sie stolperte einen Schritt zurück. »Ich … ich … wir reden noch darüber.« Sie floh die Treppe hinunter. Sekunden später hörte Cara, wie sich die Tür zu ihrem Arbeitszimmer schloss.
Mit zitternden Knien setzte sie sich auf die Bettkante. Ihr hämmernder Puls beruhigte sich ein wenig. Sie schloss die Augen und starrte für eine Weile in die beruhigende Dunkelheit ihrer Augenlider. Als sie sie wieder öffnete, saß Zoe ihr lächelnd gegenüber auf der Kommode und baumelte mit den Beinen. Wo hatte sie sich bloß versteckt?
»Hi«, sagte sie fröhlich. Sie hatte Spuren von Lippenstift an den Zähnen. Ihr Haar war feucht, so als hätte sie gerade geduscht, allerdings ohne Shampoo zu benutzen. Ihre Fußsohlen waren schwarz von irgendwelchem klebrigen Dreck. Sie trug ein T-Shirt und Jeans, aber ihr Hosenschlitz stand offen und der Kragen ihres T-Shirts war ausgeleiert, sodass man ihren schmuddeligen grauen BH erkennen konnte.
»Wo warst du?«, erwiderte Cara nur.
»Im Bad.« Zoe nickte und grinste, als hätte sie einen genialen Witz gerissen. Sie blickte sich im Zimmer um. »Ich dachte mir, deine Mutter freut sich bestimmt, wenn ich hier ein bisschen aufräume.«
»Ja«, antwortete Cara zögerlich. »Die Situation war inzwischen ziemlich angespannt.« Sie bemerkte ein großformatiges Foto auf dem Nachttisch, das vorher nicht dort gestanden hatte. Sie nahm es in die Hand. Es war ein Schnappschuss von ihr und Zoe aus der Grundschulzeit. Cara saß auf ihrem Fahrrad, und Zoe hielt sich von hinten an ihr fest. Sie standen bei strahlendem Sonnenschein vor Zoes Haus. Beide Mädchen lachten hysterisch. Cara ließ das Foto langsam sinken und lehnte es gegen die Nachttischlampe. Dann richtete sie den Blick wieder auf Zoe.
Zoe beobachtete
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