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Caravan

Titel: Caravan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Er war ein bisschen dick und nicht sehr intelligent, und er sprach mit einem
     Dialekt aus Saporishshja. Die ganze Zeit stierte er mich an und sagte, wenn ich heute zeigte, was ich draufhatte, würde er
     im Büro ein gutes Wort für mich einlegen und dafür sorgen, dass das mit meinen Papieren geregelt wurde. Er war zuversichtlich,
     dass sie mich nehmen würden, sagte er, weil wegen des warmen Wetters die Erdbeeren früher reif waren und weil er – warum wiederholte
     er das jetzt zum dritten Mal? – ein gutes Wort für mich einlegen könnte.
    Als er mir den Lohn nannte, staunte ich. Es war doppelt so viel wie auf unserem alten Feld, und ich fing schon an zu überlegen,
     was ich mir alles davon kaufen würde: eine duftende Seife, gutes Shampoo, neue Unterwäsche – kleine, sexy Höschen, die Mutter
     grässlich finden würde   –, eine große Tafel Schokolade, ein Paar Riemchensandalen, und ich brauchte eine Bürste, ein neues T-Shirt oder zwei, einen wärmeren Pullover, und außerdem durfte ich das Mitbringsel für Mama nicht vergessen. Und das Pflücken war
     so einfach hier – kein Bücken, kein Heben. Ja, dachte ich, ich habe wirklich Glück, dass ich diese Chance bekomme, und ich
     sollte das Beste daraus machen, und so pflückte ich wie eine Besessene, weil ich zeigen wollte, was ich draufhatte.
    Am Ende der Schicht, als wir zur Farm zurückkehrten, kam Boris zu mir und sagte, jetzt sei es an der Zeit zu zeigen, was ich
     draufhatte. Und dann drückte er sich an mich, auf |135| ganz ekelhafte Art, und küsste mich auf den Mund, mit nassen, schleimigen Küssen. Angst hatte ich keine – Boris kam mir einfach
     nur dumm und harmlos vor   –, also machte ich mich schlaff und ließ mich von ihm küssen, denn ich wollte diesen Job wirklich unbedingt haben. Sein keuchender
     Atem in meinem Gesicht hatte die Wirkung, dass ich im Innern ganz kalt wurde. Auf der Skala für Sex-Appeal bekam er eine Null.
     Okay, sagte ich mir, das hier ist eine geschäftliche Transaktion, sonst nichts. Ich versuchte mir vorzustellen, wie Natascha
     und Pierre sich küssten, ganz ineinander versunken. Waren die Männer damals anders? Als er endlich genug hatte, wischte ich
     mir den Mund an meinem T-Shirt ab und folgte ihm die Treppe hinauf zum Büro.
     
    Mit der Angelrute und dem blauen Eimer marschiert Andrij den Admiralty Pier hinunter, Emanuel geht neben ihm her. Der Pier
     ist ein riesiger, karger Betonsteg, fast einen Kilometer lang, der sich in einer langen Kurve, wie ein gekrümmtes Hundebein,
     ins Meer hinausstreckt, und jeder Meter scheint bereits von einem Angler besetzt zu sein, der, einen Eimer zu seinen Füßen,
     die Rute oder die Schnur ausgeworfen hat und aufs Meer hinausblickt. Manche haben ein paar kleine Fische im Eimer, aber nichts
     Erwähnenswertes.
    Etwa auf halbem Weg bis zum Knick treffen Andrij und Emanuel den Bulgaren, der Andrij den Fisch verkauft hat. Er stellt sie
     seinen beiden Freunden vor, einem Rumänen und einem Moldawier.
    »Meistens zwei, drei von uns hier«, sagt der Bulgare. »Nächste Meter kommen Balten. Gebraten-Fisch-Esser. Weiter oben«, er
     zeigt in die Richtung und sieht Andrij an, »Ukrainer und Weißrussen. Rote-Bete-Esser. Da drüben«, er zeigt in die Richtung
     und sieht Emanuel an, »sogar Afrika. Wer weiß, was die da essen. Da hinten Balkan   – Serben, |136| Kroaten, Albaner. Von denen haltet ihr besser fern. Zu viel kämpfen.«
    »Und Angliski?«
    Der Bulgare zeigt zum Ende des Piers. »Da gehen Angliskis hin. Ganz ans Ende. Hinter Balkan. Ihr erkennt Angliski. Alle haben
     Wollmütze auf. Sogar die Frauen. Über die Ohren. Sogar im Sommer. Sind sehr gute Angler.«
    »Angelst du gute Fische?«
    »Viele. Überall viele Fische. Leicht verdientes Geld.«
    Andrij wirft einen Blick in den Eimer des Jungen. Ein paar winzige Fischchen sind darin. Wem will er was vormachen?
    »Seit wann machst du die Fischsache?«
    Der Kleine sieht ihn verlegen an. »Paar Tage.«
    »Wo hast du die Angelschnur und den Eimer her?«
    »Mann vom Pier. Genau wie du. Leicht verdientes Geld.«
    »Leicht für ihn.«
    Der Bulgare sieht weg und fummelt an seiner Angel herum. Andrij hätte ihn am liebsten am Kragen gepackt, aber was hätte er
     davon?
    »Er sagt, viele viele Makrelen kommen heute Morgen rein«, ruft ihm der Kleine traurig hinterher, als Andrij ihm den Rücken
     zukehrt und davongeht. Armer Trottel, er hat noch nicht mal gemerkt, dass es schon Nachmittag ist.
    »Ich gehe nach Afrika!«

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